Für jede Lösung ein Problem

Spiegel_Kreativität_BlogNur gut fünf Minuten lang war ich unbeaufsichtigt im Bahnhof Hamburg-Altona unterwegs. Leider reichte diese Zeit mal wieder aus, um eine teure Zeitschrift zu kaufen. Dieses Mal „DER SPIEGEL Wissen“, 7,90 Euro. Das Thema: „Kreativität. Der Schlüssel zu Glück und Erfolg“. … „Der Schlüssel zu Glück und Erfolg“? Schon dieser Untertitel hätte mich warnen müssen. Wer schreibt heute noch so etwas? Auch dass die Zeitschrift sich „Das Magazin für ein BESSERES LEBEN“ nennt, ist mir erst zu Hause aufgefallen…

Eines der Titelthemen: „Wie kreativ bin ich? Der große Test“… Falls Sie das auch wissen möchten („Hier können Sie selbst Ihre Fähigkeiten ausprobieren“, heißt es), nun also die erste Frage:

„1. Aufgabe: Lösungen finden: In einer alten Villa wurde das erste Stockwerk restauriert. Als Innenarchitekt sind Sie dafür verantwortlich, Wege zu finden, wie die teilweise recht sperrigen Möbel wieder in den ersten Stock transportiert werden. Sie haben zwei Minuten Zeit, so viele Ideen wie möglich aufzuschreiben, wie der Transport bewerkstelligt werden kann. Nehmen Sie ein leeres Blatt, und beginnen Sie jetzt.“

Bei den Stichworten „Villa“ und „Kreativität“ fällt mir in der Tat nur einer ein, den das etwas hätte angehen können: DER großbürgerliche Repräsentant deutscher Literatur, Thomas Mann (1875-1955). Seine Antwort hätte vermutlich so gelautet: „Wenn in meiner Münchener Villa auch nur ein Möbelstück bewegt werden muss – und sei es die kleinste Kommode – ziehe ich mich zu rechter Zeit in mein Landhaus nach Bad Tölz zurück. Meine Frau Katia und unser Hauspersonal werden alles in schönster Angemessenheit regeln. Ich kehre keinesfalls eher zurück, als nicht auch der letzte Teppich auf den Zentimeter genau wieder seinen Platz gefunden hat. Unterdessen schreibe ich, lese ich und erledige meine Korrespondenz.“

Das wäre mit hundertprozentiger Sicherheit Thomas Manns einzige Antwort auf diese Frage gewesen. Damit wäre er aber leider am „großen Kreativitätstest“ von „SPIEGEL Wissen“ kläglich gescheitert. „Eine passable kreative Leistung“ wäre es nämlich gewesen, zwei Lösungen gefunden zu haben. Und erst „ab sechs Lösungen kann man von hoher Kreativität sprechen“. Tja, schade für Thomas Mann, einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts! Hätte er doch auch noch berücksichtigen müssen, „dass man mit alten Möbeln und einem alten Haus besonders vorsichtig umgehen muss“…! Dann nämlich, und nur dann, hätte er auch noch das „Potenzial zur ‚Problementdeckung'“ gehabt, also „der Fähigkeit, in einer Situation Probleme zu sehen, die noch keiner gefunden hat“.

Ich denke mir das nicht aus! Das steht da wirklich (SPIEGEL Wissen, 2/2016, Seite 41)! Also… kreativ ist man dann, wenn man für jede Lösung ein Problem findet? … Lassen wir das… Sparen wenigstens Sie acht Euro! Seien Sie einfach kreativ, statt irgendetwas zu testen. Arbeiten Sie. Denken Sie. Suchen Sie Lösungen, keine Probleme. Und machen Sie es wie Thomas Mann, der 1911 in einem Brief aus Bad Tölz schreibt: „Wir erfreuen uns eines für oberbayerische Verhältnisse fast unerhört sonnigen Sommers. Ich bin in der Arbeit: eine recht sonderbare Sache, die ich aus Venedig mitgebracht habe, Novelle, ernst und rein im Ton […].“