Aperçu in der Provinz

Neulich habe ich eine kluge Frau kennengelernt. Um die Situation zu beschreiben, muss ich etwas ausholen… Mein Sohn ist neun. Zweimal im Jahr braucht er neue Sachen zum Anziehen. Da mir generell das Wort „Shopping“ missfällt und auch das dazugehörige langwierige Procedere, gehen wir ganz einfach zielgerichtet einkaufen. Und weil sich genau das mit einer Großstadt wie Hamburg nicht verträgt, weichen wir aus in meine Heimat. Nach Niedersachsen.

Wir stellen uns also vor: Kleinstadt. Provinz. Ehemaliges Zonenrandgebiet. Fachwerkhäuser. Und praktisch der einzige Klamottenladen am Ort. Wir kaufen ein. Hosen gehen noch glatt durch. Bei den Oberteilen wird es schwierig. Ich schließe T-Shirts in Tarnfarben mit militaristischen Aufdrucken aus. Er schließt schlichte dunkelblaue Polohemden aus. Wir müssen aber jetzt hier was kaufen.

Und dann findet er ein – immerhin – Polohemd… nur leider in einer Unfarbe! Anthrazit, verwaschen. An allen Nähten und Paspeln scheinen großflächig weißliche Waschmittelreste zu hängen. Das Ganze sieht aus wie vor 30 Jahren aus dem Altkleidercontainer gezogen. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben.

Und jetzt kommt die kluge Frau ins Spiel, eine andere Kundin. Ich frage sie: „Wie finden Sie dieses Hemd?“. (Ich hoffe natürlich auf eine Verbündete und eine Antwort wie „Das sieht wirklich schrecklich aus.“) Aber es kommt anders! Sie denkt nach!! Und sieht meinen Sohn an. Und sagt dann freundlich: „Dunkelblau würde ihm auch gut stehen. Aber wenn er das unbedingt haben möchte, machen Sie ihm doch die Freude.“

Äh, wie bitte? Was? … Ach so. Ja… Warum eigentlich nicht? – Na, gut! Er bekommt das Ding, aber dafür bringe ich auch noch den dunkelblauen Pulli durch. Keiner heult. Keiner ist frustriert. Ein Kompromiss im besten Sinne.

Und wegen dieser schönen Geschichte möchte ich heute mal wieder das Aperçu (den geistreichen Gedanken, den klugen Einfall) als kleinste literarische Form preisen! Weil es das kann, was raumgreifendere Literatur auch kann: Uns zum Nachdenken bringen, den Blick weiten, die Sichtweise ändern.

Wir müssen nicht unbedingt Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder James Joyce‘ „Ulysses“ lesen, um klüger zu werden. (Obwohl ich davon natürlich nicht abrate!). Auch die kleine Geschichte, das kurze Zitat, der scharfsinnige Gedanke können großen Wert haben. Wir sehen es an den Psalmen oder den Sprüchen Salomos. Oder an den lesenswerten Aphorismen Georg Christoph Lichtenbergs (1742-1799) oder Marie von Ebner-Eschenbachs (1830-1916). Und was allein die Lyrik in ihrer Kürze uns oft zu sagen vermag!

Nächste Woche gehe ich mit meiner kleinen Tochter einkaufen. Auch sie schließt dunkelblaue Polohemden aus. Ich schließe rosafarbene Polyesterkleider mit Glitzer-Applikationen aus…