„Ich habe es so wahrgenommen“

Vor ein paar Tagen habe ich angefangen, einen neuen Vortrag zum Thema interne Kommunikation zu schreiben. „Dialog“, „Transparenz“ und so weiter sind da die Stichworte, aber natürlich auch „Fauxpas“ und „Missverständnisse“. Zumindest wollte ich an dem Text arbeiten, aber es kam zu Irritationen aus dem Nebenzimmer. J. (10) und M. (6) waren ganz offenbar mal wieder unterschiedlicher Meinung. Die beiden wurden immer lauter, und ich fragte mich, ob ich bei meiner Devise „Nicht eingreifen, ehe einer heult“ bleiben sollte. Das hatte sich aber schnell erledigt, denn Sekunden später standen sie neben mir, und sie heulten beide.

J. hatte seine vier Jahre jüngere Schwester mal wieder kurzerhand mit einem Judogriff aus dem Weg geschafft. „Du S.“ habe sie aber schließlich vorher zu ihm gesagt, empörte er sich. (Wir befinden uns hier im Schimpfwörterkontext der agrarischen Nutztierhaltung.) Nein, habe sie nicht, wirklich nicht, kam von M. zurück. Und das stimmte. J. überlegte, und dann kam die Antwort: „Ich habe es so wahrgenommen“.

Der Konter war natürlich dreist – weil hundertprozentig vorgeschoben – aber trotzdem gut. Wer von uns hätte ihm das Gegenteil beweisen können? Und die Auflösung war dann ganz einfach: Lachen. Der Zehnjährige war mit seinem Satz mitten bei Hermann Hesse (1877-1962) gelandet, den ich gerade zitiert hatte, und zwar im Zusammenhang von „Kommunikation und Missverständnis“ oder auch „Wirklichkeit und individuelle Wahrnehmung“. Die Stelle von Hesse stammt aus dem Roman „Demian“ (1919):

„Die Dinge, die wir sehen, sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen.“

Vielleicht hilft diese Sichtweise J. dann auch noch bei einem anderen Problem, das er bald haben könnte. Ihn treibt nämlich zurzeit die Frage um, ob es möglich sei, ein und dieselbe Pfandflasche an einem Faden immer wieder aus dem Rückgabeautomaten zu ziehen, wenn sie schon eingescannt ist. Vielleicht könnte er dann sagen (dem Hausdetektiv, der Polizistin, dem Staatsanwalt oder mit wem auch immer er es dann zu tun haben wird): „Nur Sie nehmen das als einen Betrugsversuch wahr. In Wirklichkeit handelt es sich lediglich um ein kleines physikalisch-technisches Experiment.“ Der Erfolg hängt sicherlich ein bisschen davon ab, wie die Betreffenden zu Hermann Hesse stehen. Bei unserer Freundin M., der Anwältin, hätte er schon mal schlechte Karten. Ihre Warnungen dazu waren unmissverständlich: „Hausverbot“, „Strafanzeige“, „Schadensersatzklage“, „Verletzung der Aufsichtspflicht“. Wir müssen ihn also davon abhalten. Durch Erziehung würde man meinen. Das allerdings hält Hermann Hesse leider für aussichtslos:

„Vom Erziehen habe ich niemals sehr viel gehalten, das heißt ich habe stets starke Zweifel daran gehabt, ob der Mensch durch Erziehung überhaupt irgendwie geändert, gebessert werden könne. Statt dessen hatte ich ein gewisses Vertrauen zu der sanften Überzeugungskraft des Schönen, der Kunst, der Dichtung, ich selbst war in meiner Jugend durch sie mehr gebildet und auf die geistige Welt neugierig gemacht worden als durch alle offiziellen oder privaten ‚Erziehungen‘. „

Damit meint Hesse wahrscheinlich klassische Literatur und natürlich seine eigenen Bücher. Ich kann mir kaum vorstellen, dass „Walt Disneys Lustige Taschenbücher“, die J. gerade präferiert, uns hier wesentlich weiterbringen.