Kiel. Silbermond. Friedrich Nietzsche. Das sind die Stichwörter für heute… Das Schicksal wollte es, dass wir für das Konzert der Band Silbermond („Leichtes Gepäck“-Tour) nach Kiel gefahren sind. Schon beim Aussteigen in der Kieler Innenstadt drängt sich einem gleich das erste Nietzsche-Zitat auf: „Lieber sterben als h i e r leben.“ (Ja, ich weiß, Kiel hat auch schöne Ecken. Bloß, wo waren die nochmal?) Das, was früher Ostseehalle hieß, ist heute natürlich eine „Arena“. Ein Kampfplatz also. Hier kämpft inzwischen offensichtlich die Bank, nach der der hässliche Bau benannt ist. Gegen wen eigentlich?
Egal, drinnen ist das alles vergessen. Silbermond gibt ein tolles Konzert. Die Sängerin, Stefanie Kloß, ist unglaublich charmant, die Texte sind anrührend und klug. Nachdem es letztes Mal von Silbermond zu Bertolt Brecht ging, landen wir heute wegen ihres Titels „Allzu menschlich“ bei Friedrich Nietzsche (1844-1900), dem großen Philosophen…
Um Eitelkeit, Egoismus und andere Schwächen geht es in dem Lied: „Manchmal schmück ich mein schönstes Kleid mit Federn von Fremden, schlag dann Schaum auf, bis irgendwer kommt, mir Anerkennung zu schenken. Ist das nicht menschlich, allzu menschlich? […] Manchmal hör‘ ich nicht zu, wenn du von Dingen erzählst, auf die du stolz bist. Denk‘ dann an alles, was mich unzufrieden macht und gönn‘ dir den Erfolg nicht. Ist das nicht menschlich, allzu menschlich? […] Seinem größten Feind irgendwann die Hand zu geben, seinen Stolz einfach mal beiseite legen, wär‘ das nicht menschlich? Einfach zu sagen: ‚Es tut mir leid‘ ohne diese beschissene Eitelkeit, wär‘ das nicht menschlich?“
Und jetzt Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“ schrieb er im Winter 1876/77. Eine Sammlung aus Fragmenten und Aphorismen. Aus Überlegungen, Erlebnissen und Meinungen. Dieses Buch Nietzsches kann man irgendwo aufschlagen und dann einfach loslesen. Es geht um Kultur, Religion oder Moral. Um Staat und Gesellschaft. Darum, wie der Mensch mit anderen zurechtkommt. Und auch darum, wie der Mensch mit sich selbst zurechtkommt. Silbermond und Nietzsche haben da eines gemeinsam: Man findet in ihren Texten immer wieder Stellen, über die es sich durchaus lohnt, einmal öfter nachzudenken…
Einmal öfter nachdenken sollte das Kieler Publikum zum Beispiel mal über „Manieren“. Finden wir bei Nietzsche unter der Überschrift „Anzeichen höherer und niederer Kultur“. Die Abnahme von Manieren, schreibt er, könne man „von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand versteht mehr, auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln.“ Gerade die öffentlichen Begegnungen mit Staatsmännern oder Künstlern [genau!] würden immer ungeschickter, „aus Mangel an Geist und Grazie“. So war es auch in Kiel: Das Smartphone als Kamera hatte im Publikum die Regie übernommen. Die Kacheln wurden so hochgehalten wie es nur ging, egal, ob diejenigen dahinter noch etwas sehen konnten oder nicht. Und, noch schlimmer: Der Sängerin Stefanie Kloß, die den ganzen Abend über den Dialog mit dem Publikum suchte, wurde ständig aus nächster Nähe die laufende Kamera ins Gesicht gehalten. Nicht gerade nett.
Wir bringen uns durch das Smartphone immer mehr um das Leben selbst. Wer erst im Dunkeln schlechte Konzertaufnahmen macht und die dann auch gleich noch weitersendet, verpasst natürlich das Wesentliche. Auch dazu, nämlich zu „Leben und Erleben“, sagt Nietzsche etwas in „Menschliches, Allzumenschliches“: Die meisten Menschen blieben, egal was für aufregende Dinge sie erleben, „immer leicht, immer obenauf, wie Kork“, weil sie nicht ins Leben eintauchen. Das sei „die Majorität Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen“. „Jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen“.
Vielleicht sollten wir alle mal wieder unseren Smartphone-Gebrauch betrachten. Rund drei Stunden sind es laut Studien inzwischen täglich. Schaffen wir da „aus der Welt ein Nichts“? Schwimmen wir „wie Kork“ auf dem Leben oder an ihm vorbei? … Also, wenn in Kiel mal wieder jemand vorbeikommt, der attraktiv ist, klug, freundlich und etwas zu sagen hat (was wegen der zweifelhaften städtebaulichen Ästhetik und der Abgeschiedenheit selten vorkommen dürfte), dann nehmt die Kachel runter! Smartphone aus! Augen und Ohren auf!
Und, als Letztes: Entschuldigung, Kiel! Das hätte sich so auch überall anders zutragen können. Und tut es natürlich auch.