Was würden wir nur ohne Hanns-Josef Ortheil machen? Zuverlässig versorgt er uns jedes Jahr mit einem neuen Buch. Ich sollte eher sagen, er schenkt uns jedes Jahr ein neues Buch. Auch in diesem Herbst. Für diejenigen, die den Namen noch nie gehört haben – obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wer das sein sollte – Hanns-Josef Ortheil (geb. 1951) ist einer unserer besten zeitgenössischen Autoren. Er schreibt Romane mit vielen, sogar sehr vielen, autobiographischen Passagen. Und er schreibt Bücher über die Kunst des Lebens…. Genau darum geht es jetzt…
Ab und zu arbeite ich sehr gerne in einer kleinen Ferienwohnung auf dem Darß. Bevor ich den Rechner hochfahre, führt mich mein erster Weg allerdings immer in meine Lieblingsbuchhandlung dort oben. Und da fand ich ihn. Oder er mich. Der neue Ortheil: „Was ich liebe und was nicht“ (2016). Sofort fing ich mit der Lektüre an. Und schon nach den ersten 60 Seiten hatte ich begriffen, was er mir sagen will. Wir müssen unser Leben phantasievoller gestalten. Thomas Mann fiel mir ein, mit seinem schönen Satz: „Phantasie haben heißt nicht, sich etwas ausdenken; es heißt sich aus den Dingen etwas machen.“ Und das bedeutet eben auch, das Beste aus den Dingen zu machen, die wir tun müssen.
Ein Ortheil-Beispiel dazu: Als Autor ist er natürlich viel unterwegs. Schon allein seiner vielen Lesereisen wegen. Autofahren liebt er nicht: „Ich will mich nicht in einen unbequemen Autositz pressen und stundenlang in peinlicher Bewegungsstarre festhalten lassen.“ Stattdessen fährt er ICE. Aber eben nicht so, wie wir uns das vorstellen – volle Bahnsteige, Gedränge in den engen Zuggängen, Gequengel um Reservierungen und wohin überhaupt mit dem Gepäck? Nein, Hanns-Josef Ortheil hat daraus ein Stück Lebenskunst gemacht:
„Ich habe mich in den letzten Jahren derart an das ICE-Fahren gewöhnt, dass ich den ICE selbst kaum noch bemerke. Die Gewöhnung hat dazu geführt, dass ich ihn als einen vertrauten Wohnraum empfinde. […] Das klappt natürlich am besten in einem sonst leeren Abteil, wie es fast jeder ICE vor allem spätabends und nachts anbietet. In einem sonst leeren Abteil unterwegs zu sein, erlebe ich jedes Mal als ein besonderes Vergnügen. Denn das leere Abteil ist letztlich nichts anderes als ein kleines Zimmer mit Tisch, Leselampen und Lesesesseln. Auf den Tisch gehören ein gutes Getränk und ein paar kleine Speisen, die Leselampen lassen meine Lektüren (möglichst alle in der 1. Klasse kostenlos angebotenen Zeitungen, daneben drei oder vier Bücher, in denen ich abwechslend lese) erstrahlen, und die Lesesessel sorgen dafür, dass ich mich manchmal zurücklehnen und entspannt Musik hören kann.“
Eine profane Zugfahrt – ein Fest! All diese „Zutaten“, schreibt er, machten aus einer banalen Zugfahrt „eine unterhaltsame Séance mit lauter fernen Gesprächspartnern (Schriftsteller, Musiker, Künstler)“, die einen mit der Zeit vergessen lasse, dass man außerdem noch ein Ziel habe. Und: „Komme ich glücklich irgendwo an, könnte ich oft behaupten, nach einer solchen Fahrt nicht mehr dieselbe Person zu sein wie die, die vor Kurzem noch in einen ICE eingestiegen ist. Die Fahrt hat mich ein wenig verändert.“
Es gibt noch viel mehr schöne Beispiele in diesem Buch. Und ich hatte den Rechner immer noch nicht gestartet. Stattdessen hatte ich Bilder von Dingen im Kopf, die ich liebe: lange Spaziergänge am Darßer Weststrand. Baden in der Ostsee… Und dann habe ich das einfach gemacht! Ich bin kilometerweit barfuß im Salzwasser gelaufen. Und dann habe ich (Ende Oktober!) in der Ostsee gebadet. Allerdings etwas geschummelt: direkt nach der Sauna, da geht das ganz leicht!… Gearbeitet habe ich dann auch noch. Schneller, konzentrierter und einfallsreicher, als ich es ohne diese Dinge, die ich liebe, getan zu haben, gekonnt hätte. Da bin ich mir ganz sicher.
Und jetzt Sie! Hanns-Josef Ortheil empfiehlt uns, selbst unser Buch „Was ich liebe und was nicht“ zu schreiben. Also, was wäre das? Sie können nachdenken, Sie können es notieren… Oder Sie tun es einfach!