„Wenn du nehmen willst, so gib!“

Kindererziehung hat viel mit Mitarbeiterführung zu tun. Jedenfalls oft mehr, als vermeintliche Führung in Unternehmen mit Führung zu tun hat. J., (10), unser Sohn, ist schon seit einiger Zeit ins mittlere Management aufgestiegen – mit Personalverantwortung. Er muss nämlich von Zeit zu Zeit auf seine kleine Schwester M., (6), aufpassen und dabei kleinere Projekte verantworten. Vor kurzem lief das Ganze unglücklicherweise nicht ganz so wie geplant. Da durften die beiden sich zwei belegte Brötchen beim Bäcker kaufen, J. sollte aber vorher noch mit meiner ec-Karte hundert Euro abheben. Die Aufgabe wäre also gewesen, mit zwei belegten Brötchen, der Schwester, der ec-Karte und gut 90 Euro wieder nach Hause zu kommen.

Offenbar genügte da aber J.s. Führungsstärke nicht ganz. M. gehorchte ihm nicht, man prügelte sich unterwegs noch ein bisschen, und die Kleine lief dann alleine heulend nach Hause, allerdings mit einer zerrissenen Brötchentüte ohne Brötchen. J. kam etwas später total sauer nach Hause, zwar mit Brötchen, allerdings ohne ec-Karte und ohne 90 Euro. Sein Portemonnaie hatte er irgendwann während der ganzen Entgleisung verloren. Mit meiner ec-Karte, mit dem Zettel, auf dem die PIN-Nummer stand (!), und mit den 90 Euro. Nochmals herzlichen Dank an die unbekannte nette Dame, die alles unangetastet bei unserer Bank abgegeben hat!

In seine nächste Führungsaufgabe wenige Tage später – kleine Schwester von der Schule abholen, zusammen Hausaufgaben machen, keinesfalls Unterschichten-Fernsehen gucken und noch ein bisschen mit ihr spielen, bis ich wieder da bin – startete J. vollkommen unmotiviert aber alternativlos …

Und trotzdem: Gegen Abend traf ich die beiden an, als wären sie schon immer die besten Freunde gewesen. Sie hatten gespielt, gemalt und gerechnet. M. konnte sogar auf einmal subtrahieren! Was war an diesem Nachmittag geschehen? Wir nennen es Bestechung, andere nennen es gerne „Incentive“. Und das sah dann so aus: „Ich bin mit M. zuerst zum Kiosk gegangen und sie durfte sich eine Schachtel Kaugummi-Zigaretten aussuchen. Ab da lief alles super.“

„Do ut des“, „quid pro quo“ oder „manus manum lavat“ – „Ich gebe, damit du gibst“, „dieses für das“ oder „eine Hand wäscht die andere“ – egal, wie wir es nennen wollen, das Prinzip ist Jahrtausende alt. Ohne, dass Menschen schenken und beschenkt werden, würde eine Gesellschaft gar nicht bestehen können, schrieb der Soziologe Georg Simmel (1858-1918) 1908 in seinem „Exkurs über Treue und Dankbarkeit“: „Aller Verkehr der Menschen beruht auf dem Schema von Hingabe und Äquivalent“, heißt es da. Eigentlich ganz logisch.

Also, haben wir uns wieder ein paar langweilige Fachbücher zum Thema „Mitarbeitermotivation“ gespart. Vielleicht fällt Ihnen für den Fall, dass Ihre Mitarbeiter älter als sechs sind und Kaugummi-Zigaretten nicht mehr ganz so toll finden, ja noch was anderes ein. Und statt Hunderten von Seiten über Modelle und Theorien von Führungskompetenzen reichen uns heute mal vier Zeilen Goethe (1749-1832). Sein Gedicht zur einfachen Wahrheit des Gebens und Nehmens heißt prosaisch „Wie du mir, so ich dir“ (1827):

Mann mit zugeknöpften Taschen,

Dir tut niemand was zulieb:

Hand wird nur von Hand gewaschen;

Wenn du nehmen willst, so gib!