Über das Reden und den Dialog spreche ich oft in meinen Vorträgen. Darüber, dass wir zuviel simsen und What’sAppen, uns aber umso weniger wirklich begegnen. Ich spreche darüber, dass 15-jährige Jugendliche heute rund sechs Stunden am Tag vor ihren Smartphones verbringen. Ich spreche über Sokrates (469-399 v. Chr.), der den Satz prägte „Rede, damit ich dich sehe“. Oder über den großen französischen Philosophen Michel de Montaigne (1533-1592), der uns sagt: „Durch das Wort werden wir zum Menschen“. Und der in seinen „Essais“ (1580 und 1588) bekennt, dass er sich keiner Beschäftigung im Leben lieber widmet als dem Gespräch und der Diskussion. Ich rede über Kommunikation im Beruf, über sprachliche Masken oder über Sprachstil und Persönlichkeit. Über ein Thema aber habe ich wirklich noch nie gesprochen. Ich habe noch nicht einmal näher darüber nachgedacht… und ich bin froh, dass es mir jetzt endlich begegnet ist. Es geht um Gespräche mit Sterbenden.
Meine Freundin P. hatte mich eingeladen, sie zu einem Vortrag nach Halle/Saale zu begleiten. „Berührungsängste“ hieß der Titel. Anlass war das Jubiläum der Palliativstation eines renommierten Krankenhauses. Palliativstation. „Palliare“ heißt im Lateinischen „ummanteln“ oder „einhüllen“. Das heißt, Schwerstkranke, unheilbar Kranke und Sterbende zu begleiten. Ihr Leid und ihre Schmerzen zu lindern. Ihre Lebensqualität und ihre Menschenwürde zu wahren. Ihre Angehörigen zu stützen. Eine Aufgabe, die nicht hoch genug bewertet werden kann. Ärzte, Schwestern, Pfleger, Psychologen und alle anderen dort verdienen unseren höchsten Respekt.
So auch der Referent, Dr. Christian Schulz-Quach vom King’s College in London. Er hat als Palliativmediziner nicht nur Tausende von Sterbenden begleitet, sondern auch, gemeinsam mit einem Kollegen, das Projekt „30 junge Menschen sprechen mit sterbenden Menschen und ihren Angehörigen“ ins Leben gerufen. Schüler, Auszubildende und Studenten zwischen 16 und 24 Jahren setzten sich an Sterbebetten und hörten zu, fragten und erzählten. Sie wurden dabei von einem Filmteam begleitet: www.30jungeMenschen.de.
Das Ergebnis ist beeindruckend. Jedes Gespräch ist einzigartig. Es wird geweint, es wird geschwiegen. Der Umgang miteinander ist von beiden Seiten einfühlsam und vorsichtig. Eine der jüngsten Teilnehmerinnen, Nora Maria Puls, damals 17 Jahre alt, besuchte mehrfach eine 46-jährige Sterbende. „Ich kann nicht sagen, dass ich sie begleitet habe. Sie hat mich ja auch begleitet“, sagt Nora heute. Ob sie Angst gehabt habe, vor allem vor dem letzten Besuch, der schon im Hospiz stattfand? „Ich hatte das Gefühl, ich kann nichts falsch machen“, sagt sie schlicht. Was für eine schöne Einstellung.
Ines-Madlen Bürger, damals 16 Jahre alt, schreibt über ihr Gespräch folgendes: „Einige Dinge des Gespräches erschütterten mich, machten mich traurig und brachten mich doch dazu, leicht zu grinsen. Sätze wie: „Ich gehe nur schon einmal vor, und meine Familie wird ein paar Jahre später schon nachkommen, ich halte einen Platz frei!” Dennoch versuchte ich, stark zu bleiben. … Als ich das Zimmer verließ, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Zum einen, weil ich sehr glücklich darüber war, dass ich ein so schönes und offenes Gespräch führen konnte und durfte und zum anderen, weil mich dieses persönliche Schicksal sehr erfasste. Ich kann mich nur noch einmal dafür bedanken, dass ich dies miterleben durfte. Eine Erfahrung, die mich reifte und die ich wahrscheinlich niemals mehr vergessen werde; vielen Dank an das Team und für ein wundervolles Gespräch, das ich mit einem wundervollem Menschen geführt habe. ICH WERDE ES NIEMALS VERGESSEN.“
Moritz Faust war während des Projektes 18 Jahre alt: „Im 21. Jahrhundert bilden sich viele Menschen einen eigenen Glauben, und so habe ich, verstärkt durch das Workshop-Wochenende, einen Sinn in meinem Leben und in dem, was danach kommt, gesucht. Jetzt ist das Wochenende 4 Tage her und langsam begreife ich fürs Erste, dass es nicht darum geht, viel Geld zu verdienen, möglichst vielen Menschen nach dem Tod in Erinnerung zu bleiben oder besondere Dinge zu vollbringen. Nein, es geht darum, einen Platz auf der Welt zu finden, an dem ich glücklich bin, diese eine Aufgabe, die mir Spaß macht und mich ausfüllt.“
Gespräche mit Sterbenden helfen beiden Seiten. Die Schweizer Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) hat schon 1971 in ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ gezeigt, wie groß das Interesse fast aller Menschen ist, kurz vor ihrem Ende mit anderen über ihre wesentlichen Dinge zu sprechen. Und Sterbende können wiederum unsere Lehrer sein, da ihnen kaum mehr etwas die Sicht auf ihr Leben verstellt. Die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware hat fünf essentielle Wahrheiten ausmachen können, die viele Menschen am Lebensende beschäftigen. In ihrem Bestseller „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ (2013) zählt sie die folgenden Punkte auf:
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.
- Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.
- Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.
- Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.
… Wir müssen keine Angst haben, in der Begegnung mit Sterbenden Fehler zu machen. Wir begehen nur einen riesigen Fehler, wenn wir nicht mit ihnen sprechen. Das Thema betrifft jeden von uns. Jeden. Es gehört mitten in unsere Gesellschaft.