Keine Antwort ist keine Antwort

Es ist mir schon wieder passiert. Ich bin angemeckert worden. Ohne, dass ich etwas Böses getan hätte. Also so ähnlich wie im ersten Satz von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ (1914/15): „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“  Jetzt bin ich zwar glücklicherweise nicht gleich verhaftet worden, aber wenn meine Kontrahentin das gekonnt hätte, wäre sie zweifelsohne auch davor nicht zurückgeschreckt …

Das Wochenende begann harmlos. Wir wollten uns mit Freunden auf dem Markt treffen, und ich parkte am Rande einer großen Garageneinfahrt. Perfekter Parkplatz. Nur das Heck des Wagens ragte rund 30 Zentimeter dorthin, wo der Kantstein schon abgesenkt war. Ich blockierte das Tor aber nicht und wollte los. In dem Moment ging im Hochparterre eine Balkontür auf. Eine sichtlich übellaunige Dame stürmte heraus und fuhr mich an: „Sie wollen doch da wohl nicht stehen bleiben!“ Ich fragte, ehrlich erstaunt, zurück: „Warum denn nicht?“ Und statt einer Antwort schmiss sie die Tür von innen wieder zu. Damit konnte ich nun wirklich nichts anfangen. Keine Antwort ist eben nicht auch eine Antwort. Keine Antwort ist ganz einfach keine Antwort.

Nachdem wir vom Markt zurückkamen dann Balkonszene, Akt II: Die Tür ging auf, und die Frau brüllte mich an: „Das haben Sie doch extra gemacht! Ich konnte jetzt eine Stunde lang nicht wegfahren. Ich komme so nicht aus meiner Garage!“ Knall. Tür wieder zu. Mal abgesehen davon, dass ich mit einem Panzer in diese Garage rein- und auch wieder rausgefahren wäre, frage ich mich bis heute, was diese Frau eigentlich für ein Problem hat. Bei dem Satz: „Bitte bleiben Sie dort nicht stehen, ich kann so nicht aus meiner Garage fahren“, hätte ich doch sofort umgeparkt.

Und je öfter mir so etwas passiert, desto mehr bin ich davon überzeugt: Sie alle haben recht! Nämlich die Literaten, Philosophen und Soziologen, die uns Deutschen bescheinigen: Wir können nicht reden. Der Schriftsteller Walter Jens (1923-2013), der in Tübingen den ersten deutschen Lehrstuhl für Rhetorik innehatte, sah genau darin „die Überreste einer historisch erklärbaren Untertanengesinnung, die nur Befehle und Gehorchen kennt“. Bertolt Brecht (1898-1956) hat den Begriff „deutsche Knechtseligkeit“ geprägt. Und Heinrich Mann (1871-1950) führt uns in seinem Roman „Der Untertan“ (1918) einen Typus des Deutschen vor Augen, der sich in einer Mischung aus Feigheit, Falschheit und Tyrannei durchs Leben windet.

Wir haben offenbar zu lange in undemokratischen Gesellschaftsformen verbracht. Generation um Generation waren wir entweder Herrscher oder – meistens – Untertanen. Erst in den unzähligen deutschen Territorialstaaten, den Fürstentümern, Herzogtümern und Grafschaften. Dann sangen wir ab 1871 artig einem Kaiser „Heil dir im Siegerkranz“. Und nur wenig später begannen die beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts, von denen die letzte erst 1989 endete. Wenig Zeit, als freier Mensch das freie Reden zu lernen. Unser letzter Kanzler, der das noch richtig gut konnte, hieß Otto von Bismarck (1815-1898), und das ist ja auch schon ein paar Jahre her.

Wir können offenbar nur Herr oder Knecht sein. Feldwebel oder Duckmäuser. Befehlen oder kuschen. Der richtige Ton in der Mitte fehlt uns. Der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm (1900-1980) prägte den Begriff des „autoritären Charakters“ der Deutschen. Damit meinte er ein Verhalten,  dass man gemeinhin auch  „nach oben buckeln und nach unten treten“ nennt und das geprägt ist von Konformität und dem extremen Gehorsam gegenüber Autoritäten. Pluralistische, freiheitliche Lebensformen und der dazugehörige angemessene Sprachstil überfordern da schnell. „Die Furcht vor der Freiheit“ (1941) heißt deswegen auch eines von Fromms Hauptwerken.

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) fragte 1943 „Sind wir noch brauchbar?“:

„Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste
der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?
Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. […]“

Schlichte, gerade Menschen, die freundlich und souverän sagen können, was sie wollen und was sie nicht wollen. Wenn wir in der kommenden Zeit nicht als ein Volk von eingeschnappten Türenknallern und frustrierten Protestwählern auf uns aufmerksam machen wollen, müssen wir dringend eines: reden lernen!