Kennen Sie das? Eigentlich wollten Sie heute noch ein wichtiges Konzept versenden. Oder eine Entscheidung fällen, die so richtungsweisend für die kommenden Monate wäre. Oder ein Gespräch mit Mitarbeitern oder Kollegen führen, das überfällig ist. Aber irgendetwas widerstrebt Ihnen. Irgendwie will es heute nicht so einfach von der Hand gehen. Und irgendetwas hindert Sie daran.
Das könnte eine Situation sein, in der wir einmal über Kairos nachdenken sollten. Im Gegensatz zu Chronos, dem Gott der Zeit in der griechischen Mythologie, steht die Gottheit Kairos für den günstigen Augenblick. Und dieser günstige Augenblick ist für jeden von uns ein anderer. Wir alle haben unser eigenes Tempo und unsere eigene Tagesform. Wir haben unseren eigenen Pulsschlag. Und einige von uns sind morgens um sechs am leistungsstärksten und kreativsten, andere abends um zehn.
Und wenn wir Chronos, die ablaufende Zeit, durch gutes Management in den Griff bekommen, dann ist es bei Kairos eher die Intuition. Für Kairos brauchen wir ein gutes Gefühl. Und den Mut zu sagen, er ist noch nicht da, der richtige Moment. Vielleicht wissen wir unterbewusst, dass uns für die wichtige Entscheidung doch noch Informationen fehlen. Oder wir spüren, dass wir für dieses schwierige Gespräch heute einfach zu schlecht drauf sind.
Ein sehr altes biblisches Zeugnis bringt genau das literarisch auf den Punkt: Altes Testament, Sprüche Salomos, 19,2:
„Wo man nicht mit Vernunft handelt, da ist auch Eifer nichts nütze; und wer hastig läuft, tritt fehl.“
Und Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), unser großer Dichter der Toleranz, beschreibt genau das in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“:
„Der Langsamste, der sein Ziel/nicht aus den Augen verliert/geht noch immer geschwinder,/als der ohne Ziel herumirrt.“
Also, gestehen wir uns auch mal zu, zu sagen: „Jetzt nicht!“ … Aber wenn der richtige Augenblick dann da ist, wenn wir die günstige Gelegenheit erkennen, dann los! Dann dürfen wir nicht mehr zaudern. Denn eines können wir nicht – den günstigen Zeitpunkt zurückholen. Wenn die Gelegenheit vorbei ist, dann war’s das. Kairos nämlich hat in den antiken Darstellungen eine Locke, die ihm in die Stirn fällt, damit man ihn von vorne ergreifen kann. Daher stammt auch die Redewendung „die Gelegenheit beim Schopfe packen“.
Sein Hinterkopf allerdings ist kahl! Wenn er vorbei ist, der günstige Augenblick, werden wir ihn von hinten nicht mehr erwischen.