Daniel Barenboim kommt nie wieder nach Hamburg. Das glaube ich jedenfalls, nachdem ich neulich miterlebt habe, wie er versuchte, einen Solo-Debussy-Abend am Flügel zu bewältigen. Es war so: Hamburg hat ja ein neues Konzerthaus, von dem Sie vielleicht schon mal gehört haben: die Elbphilharmonie. Das ist ein demokratisches Konzerthaus, von Schweizer Architekten entworfen, und grundlegend anders als die Säle früher. Früher waren die Künstler vorne auf der Bühne, und die Akustik war so angelegt, dass man hauptsächlich sie hörte. Im Großen Saal der Elbphilharmonie sind die Künstler aber nun in der Mitte, und das Publikum sitzt um sie herum. Praktisch wie in einem Stuhlkreis, den wir aus Kindergärten und Reha-Kliniken kennen, nur größer.
Das Positive des großen Stuhlkreises ist, dass man überall gut hört, und das ist ja irgendwie demokratisch. Leider hört man aber nicht nur die Künstler – in diesem Fall Daniel Barenboim – überall gut, sondern jeden anderen auch. Und das ist das politische Problem der Elbphilharmonie, denn das Hamburger Publikum ist offenbar noch nicht reif für eine solch radikale Art der Mitbestimmung. Jedes Tuscheln, jedes Raunen, jedes Bonbonpapier, jedes herunterfallende und klingelnde Handy (ja, auch das gab es!) hörte man in einer glasklaren Ausprägung – genau so gut wie Barenboim. Und Barenboim war ja nur ein Zweitausendeinhundertstel der Stuhlkreisteilnehmer, also nicht mal 0,05%. Er hatte wirklich keine Chance.
In traditionellen Konzerthäusern wurde man auch nicht so mit dem Äußeren der anderen Konzertbesucher konfrontiert. Man hatte selbst auf schlechten Plätzen nur ein paar Hinterköpfe vor sich. Das ist jetzt auch anders. Man sieht nämlich die anderen auch sehr gut, und in einigen Fällen möchte man das gar nicht. Ich konnte den Blick gar nicht von dem korpulenten Mann im Norwegerpullover wenden, auch nicht von dem jüngeren direkt vor der Bühne, der sich in Jeans auf dem Sitz fläzte, als säße er seit Stunden vor dem Fernseher. Meine besondere Aufmerksamkeit hatte ein Herr direkt gegenüber, der völlig unbeweglich im Stuhl saß und zur Decke starrte. Ich wollte eigentlich noch wissen, ob er nur eingeschlafen war, oder ob sich später ein Bestattungsunternehmen um ihn kümmern musste. Das habe ich aber nicht mehr mitbekommen.
Und dann kam das Husten. Das Publikum kam nicht in die Elbphilharmonie und hustete dort, sondern ganz augenscheinlich waren die meisten gekommen, um dort zu husten. Nach dem zweiten der zwölf Préludes Debussys hatte die Lautstärke dann wirklich Kindergartenniveau erreicht. Barenboim nahm die Hände von der Klaviatur und holte sein Stofftaschentuch heraus. Das hielt er sich demonstrativ vor den Mund, um die Huster wenigstens zu dieser Form des Anstands aufzufordern.
Also, dieser demokratische Konzertsaal überfordert uns. Barenboim muss das Gefühl gehabt haben, in der abgelegensten Provinz gelandet zu sein. So ähnlich wie der „Theatermacher“ im gleichnamigen Stück von Thomas Bernhard (1931-1989), der dort als „Staatsschauspieler“ in das 280-Seelen-Dorf „Utzbach“ kommt. „Als ob ich es geahnt hätte“, ruft er dort aus, … und hier soll ich mein Rad der Geschichte spielen … Trostlos. Absolute Kulturlosigkeit, trostlos.“
Die Kunst soll uns ja zur Menschlichkeit erziehen, zur Ästhetik (auch des Geistes) und damit zur Verantwortung und Demokratie. Sie soll uns stuhlkreisfähig machen. Kunst kann helfen, Musik auch. Nur, um ein Klavierkonzert zu besuchen, müssen schon Grundkenntnisse von Zivilisation vorhanden sein. Letzte Rettung also mal wieder: die Literatur! Da kann man die Nachschulung ganz alleine unbeobachtet zu Hause beginnen. Die große amerikanische Schriftstellerin und Publizistin Susan Sontag (1933-2004) sagte in ihrer letzten öffentlichen Rede 2004:
„In unserer degenerierten Kultur werden wir fast überall dazu angehalten, die Realität zu vereinfachen, Weisheit zu missachten. Es steckt viel Weisheit im kostbaren Erbe der Literatur, der Weltliteratur, die uns weiter ernähren kann, die einen unerlässlichen Beitrag zu unserer Menschlichkeit leistet, indem sie eine komplexe Sicht der menschlichen Empfindungen und der Widersprüche artikuliert, ohne die es in Literatur und in Geschichte kein Leben gibt. Literatur ist eine Form von Verantwortung – gegenüber der Literatur selbst und der Gesellschaft. Literatur verstehe ich im normativen Sinn, als eine, die hohe Maßstäbe anlegt und verteidigt. Gesellschaft verstehe ich ebenfalls im normativen Sinn. Man könnte sagen, dass große Schriftsteller, indem sie wahrhaftig über ihre Gesellschaft schreiben, entwickeltere Begriffe von Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit evozieren, für die einzutreten wir das Recht, manche würden sagen, die Pflicht haben.“
Also, ab in die Buchhandlung, erst dann wieder in die Elbphilharmonie! Und bis dahin müssen wir uns anderweitig behelfen. Ich habe noch ein älteres Programmheft aus der Kölner Philharmonie. Dort steht gleich auf der ersten Seite: „Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben Ricola-Kräuterbonbons bereit und händigen Ihnen Stofftaschentücher des Hauses Franz Sauer aus.“ Das Modehaus Franz Sauer in Köln gibt es nicht mehr. Aber wir brauchen die Bonbons!
Kann es eigentlich sein, dass diese Schweizer Architekten uns den Demokratie-Konzertsaal entworfen haben, wohl wissend, dass wir damit nicht zurechtkommen, nur um den Absatz ihrer Kräuterbonbons zu steigern?