„Bücher“, sagte der Schriftsteller Jean Paul (1763-1825), „sind nur dickere Briefe an Freunde“. Damit meinte er natürlich Briefe, die der Autor seinen Lesern schreibt. Für mich hat dieser Satz allerdings eine andere Bedeutung bekommen, seit meine Freunde anfingen, mir merkwürdige Bücher zu schenken. Seitdem frage ich mich nämlich, ob das Buch ein Brief von ihnen an mich sein soll. Es begann damit, dass ich von meiner Freundin V. „Kress“ (2015) von Aljoscha Brell bekam …
Der Protagonist Kress studiert in Berlin Literaturwissenschaft und Philosophie, interessiert sich für Goethe und Kleist und besucht Seminare zur Ethik Immanuel Kants. „Deswegen hat sie mir das geschenkt“, dachte ich. Dann allerdings stellt sich schon ziemlich bald heraus, dass dieser Kress nicht ganz dicht ist. Den Werbemüll aus seinem Briefkasten stopft er in die der Nachbarn. In seiner dunklen, runtergekommenen Wohnung steigt er über Massen von leeren Flaschen. Jeden Morgen unterhält er sich am Küchenfenster mit einer Hinterhoftaube, die er „Gieshübler“ nennt und siezt. Und bald schon stalkt er eine Kommilitonin, dringt heimlich in ihre Wohnung ein und hat im Grunde nichts mehr unter Kontrolle. Gar nichts. Sollte das etwa auch etwas mit mir zu tun haben?
Jetzt hat mir A., mit dem ich – genau wie mit V. – seit den achtziger Jahren befreundet bin, „Die Welt im Rücken“ (2016) von Thomas Melle mitgebracht. Undeutlich murmelte er in Richtung seiner Reisetasche etwas von „Shortlist Deutscher Buchpreis“, „bipolare Störung“ und „Guck mal rein, Meike“. „Bipolare Störung“ und „Guck mal rein, Meike“? Erst der durchgeknallte Literaturwissenschaftler und jetzt das! Sagt mal, Leute, habt Ihr mir irgendetwas zu sagen??
An Freunden, die einen so gut kennen, kann man sich ja leider nicht rächen. Zum Beispiel mit dem Lüften von A.s wahrem Alter oder Ähnlichem. V. und A. gegenüber bin ich außerdem gerade im Moment wegen jüngster Vorkommnisse total erpressbar. Wenn einer von den beiden auch nur ansatzweise aktuelle Passagen aus unserer gemeinsamen What’sApp-Gruppe veröffentlichen würde, könnte ich sofort einpacken. Da also ein Rachefeldzug komplett ausfällt, lese ich jetzt einfach mal „Die Welt im Rücken“.
Und was stellt sich heraus? Es ist ein richtig gutes Buch. Autobiographisch beschreibt Thomas Melle die Geschichte seiner manisch-depressiven Erkrankung. Eine Geschichte zwischen „Begeisterung“ und „Schalheit“, zwischen „Überfülle“ und „Vakuum“. Ein Leben zwischen Zusammenbrüchen, Einsamkeit und Paranoia. „Die Welt im Rücken“ ist ein bewegendes, außerordentlich gelungenes Stück Literatur. Melle hätte, finde ich, den „Deutschen Buchpreis 2016″ bekommen sollen. „Kress“ war übrigens auch ein sehr gutes Buch, komischer und stilistisch ebenso brillant.
Also könnte ich doch fast in Betracht ziehen, dass die beiden mir einfach Bücher geschenkt haben, die sie gut finden und von denen sie annehmen, dass sie mir auch gefallen würden. Ohne Botschaft zwischen den Zeilen. Und mir wäre es fast so gegangen wie dem Mann aus der „Geschichte mit dem Hammer“ aus Paul Watzlawicks (1921-2007) „Anleitung zum Unglücklichsein“ (1983):
„Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß, weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er ‚Guten Tag‘ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ‚Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!'“
Und ich? Ich hätte fast ausgeplaudert, dass A. in diesem Sommer nicht 27 wird, und dabei hat er mir einfach nur ein gutes Buch geschenkt.