Entweder – Oder

Haben Sie schon von dem spektakulären Hamburger Brotmesser-Mord gehört?… Ich auch nicht, kommt aber noch! Es gibt zwar noch keine Tat und kein Motiv, auch noch keinen Mörder. Aber es gibt bereits eine Tatwaffe – das Brotmesser. Und das trägt unglücklicherweise die Fingerabdrücke meiner Freundin B. Sie hat einen besonderen Hang zum Kriminalistischen. Themen dieser Art begegnen ihr merkwürdigerweise andauernd, sie verfolgen sie geradezu. Und wenn der „stern“ mal wieder eine Geschichte über irgendeine abseitige Provinz-Perversion veröffentlicht (unbedarfte Frau lernt ihren Mörder im Internet kennen und endet in einem feuchten ungeheizten Haus in der Nähe der Mecklenburgischen Seenplatte; das Ganze kommt nur raus, weil der Täter morgens nackt im Garten Trompete spielt, oder so ähnlich), dann kennt sie die meistens schon.

Das Brotmesser hat B. an ihren Gemeinschafts-Mülltonnen vergessen. Sie brauchte es für etwas, das mit Kübelpflanzen zu tun hatte, aber an sich wohl keine so gute Idee war. Es war ein scharfes, teures Brotmesser. Ihr bestes, und am nächsten Morgen war es weg. Scharfsinnig konstruierte sie die Geschichte, die nun folgen wird: Derjenige, der das Messer genommen hat, kann jetzt bequem jemanden damit umbringen, ohne je belangt zu werden, denn am Messer sind ja ihre Fingerabdrücke und ihre DNA. Vermutlich wird bald schon die Polizei vor der Tür stehen, und ob sie dann für den Tatzeitpunkt ein Alibi hat, ist mehr als fraglich. Ihre Unschuld nachweisen wird sie unter diesen Umständen kaum können. So und nicht anders wird es eines Tages kommen… Am besten, ich fange schon mal an, verschiedene Versionen von Gnadengesuchen an den Bundespräsidenten zu formulieren.

Wäre es nicht schön, wenn es im Leben auch ab und zu mal so laufen könnte wie beim Erfinden einer Geschichte? Das Ende ist schon klar, und wie man dann im Detail dort hingelangt, wird sich noch ergeben. Alles nimmt seinen Lauf, am besten dann natürlich einen positiven, und man braucht sich nicht großartig weiter darum zu kümmern. Dann gälte endlich mal der – leider so wahre – Satz des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813-1855) nicht mehr, dass man das Leben vorwärts leben müsse, es aber nur rückwärts verstehen könne:

„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss.“

Und leben heißt entscheiden. Für Kierkegaard war das eines der zentralen Themen seiner Philosophie. Deswegen heißt sein bekanntestes Werk logischerweise „Entweder – Oder“ (1843). Ihm ging es damals vor allem um die Gegenüberstellung zweier Lebensanschauungen, der ästhetischen und der ethischen. Die erste ist auf Schönheit und Genuss gerichtet, die zweite auf Verantwortung. Das wäre ja mal ein Thema, mit dem zu befassen sich lohnen würde.

Können wir aber nicht, wir haben nämlich am Tag noch 20.000 andere Entscheidungen zu treffen! So viele sind es wirklich, das zeigt gerade die Ausstellung „Entscheiden. Über das Leben im Supermarkt der Möglichkeiten“ im Hamburger „Museum der Arbeit“ . Und diese 20.000 Entscheidungen werden uns dann auch noch immer schwerer gemacht. Schon vor dem Shampoo-Regal eines durchschnittlichen Drogeriemarktes ist doch für die meisten von uns der Tag schon gelaufen. Der Kabarettist Florian Schröder (geb. 1979) schreibt in seinem Buch „Hätte, hätte Fahrradkette. Die Kunst der optimalen Entscheidung“ (2014):

„In der Drogerie nebenan bin ich froh, dass ich keine Frau bin. Über 100 Lippenstifte und fünf Eyeliner und sicher an die 500 Shampoos, Schaumfestiger und Hautcremes. Allein die Firma L’Oréal teilt ihre Shampoos ein in Bedarf und Marke. Unter Bedarf habe ich die Wahl zwischen coloriertem , trockenem Haar im Alter, dünnem und krausem Haar – und ganz unten, so als wäre es das Seltenste und Unwahrscheinlichste: normalem Haar. […] Die Liste wird noch länger, für jede Minderheit ist etwas dabei.“ Und jetzt kommt er von „Color Glanz“, „Energie“ und „Anti-Bruch“, zu „Anti-Schädigung“, „Glatt-Intense“, „Nutri-Gloss“, „Nutri-Gloss-Chrystal“, „Re-Nutrition“, „Total Repair 5“ usw. usw., und es nimmt einfach kein Ende…

Vielleicht sollten wir dem hoch gepriesenen Wort „Entscheidungsfreiheit“ in Zeiten der Überforderung mal eine zweite Bedeutung zugestehen: Neben der Freiheit, entscheiden zu können, würde es dann auch die Freiheit, mal nicht entscheiden zu müssen, beinhalten. Vor allem bei vollkommen überflüssigen Dingen. Das würde heißen, nicht nur frei zu sein für Entscheidungen, sondern auch – wenigstens manchmal – frei zu sein von Entscheidungen.