Lieben Sie auch so sehr die Musik Johann Sebastian Bachs? Seine hinreißenden geistlichen Kantaten? Rund 200 sind uns davon erhalten, weit über 300 müssen es wohl mal gewesen sein. Oder seine Orgelwerke – auch über 200? Diese tiefgründigen Kompositionen, durch die uns oft ein musikalisches Thema begleitet. Ein Thema, das uns vertraut ist, das uns trägt, das wir sogar unbewusst wahrnehmen. Das ist der Cantus firmus, der „feststehende Gesang“, mit dem Bach so gerne gearbeitet hat. Viele andere Stimmen mögen ihn begleiten und umspielen, er aber bleibt im Wesentlichen unverändert. Dieser alte Begriff ist mir jetzt in einem anderen Zusammenhang wiederbegegnet…
„Der Zauber meines viel zu kurzen Lebens“ (2016) heißt das berührende Buch der Engländerin Kate Gross (1978-2014) auf deutsch. Sie hat es begonnen, als sie erfahren hat, dass sie bald sterben wird. Dass sie sehr bald sterben wird. Vor allem für ihre beiden Söhne schreibt sie dieses Buch, die, wenn sie ihre Mutter verlieren werden, noch nicht einmal das Grundschulalter erreicht haben. „Die Summe eines Lebens“ möchte Kate Gross teilen, alles, was sie ausmacht, was ihr wichtig ist. Ein Kapitel nennt sie „Cantus firmus“.
Darin geht es vor allem um den Verlust ihrer beruflichen Existenz. Vor dem Ausbruch ihrer Krankheit war Kate Gross sehr erfolgreich im politischen Business unterwegs. Direkte Mitarbeiterin von Tony Blair und Gordon Brown, später Geschäftsführerin der „Africa Governance Initiative“: „Ich brauchte die Anerkennung und das Lob, und ich mochte das kleine rote Licht an meinem BlackBerry ein bisschen zu sehr. […] Das berufliche Ich, das ich konstruiert hatte, war schlau und schick angezogen und unterhielt sich angeregt mit tollen Menschen.“
All das hat sie verloren, aber sie empfindet keine Bitterkeit, denn durch das Schreiben findet sie zu sich selbst: „Der Beruf ist für die meisten Menschen das, was uns nach außen hin definiert, die erwachsene Spitze des Eisbergs, die wir der Welt zeigen, und das, was unsere Zeit und Energie schluckt. Aber inmitten des ganzen eifrigen Strebens verlieren wir allzu leicht das, was uns wirklich ausmacht, aus den Augen. Dieser Teil von uns versucht die ganze Zeit über, an die Oberfläche durchzubrechen, weil er so wichtig ist.“ Und das gelingt Kate Gross dann in den letzten Monaten ihres Lebens. „Das Sterben hat mich von Konventionen und Ehrgeiz befreit.“ Und: „Die Tatsache, dass ich sterben werde, hat mir Jahrzehnte gestohlen, aber im Hier und Jetzt hat sie mir die Zeit geschenkt, mich mit den Dingen beschäftigen zu können, die mich ausmachen.“ Jetzt höre sie endlich ihren „Cantus firmus, die Grundmelodie meines Lebens“: „Ich folge meinem Glück, ich kehre zu meiner Grundmelodie zurück.“
Außerdem fragt sie sich: „Kann es sein, dass ich mit zehn eher wusste, wer ich bin, als mit dreißig? Kann es sein, dass sich ein kleines Kind näher am heiligen Gral der Maslow’schen Selbstverwirklichung befindet als eine Erwachsene? Ich denke, so ist es wohl.“
Ja, das glaube ich auch. Ich habe meinen neunjährigen Sohn gefragt: „Wer bist Du? Wie bist Du? Was ist toll an Dir?“ Er hat mir vier Antworten gegeben: „Ich bin freundlich. Ich bin sensibel. Ich weiß meistens, was passiert, wenn man etwas so macht – oder anders. Ich weiß oft, ob Sachen gut oder schlecht sind.“ Das ist doch ein schöner Cantus firmus für ein Leben! Ich wünsche ihm sehr, dass er ihn auch in 30 oder 40 Jahren noch hören kann und sich von ihm tragen lässt. Sowohl persönlich als auch beruflich. Und dass er das beides nicht trennen muss. Und uns allen wünsche ich das auch.