Kann es sein, dass Lesen nicht nur die Dummheit gefährdet, sondern womöglich auch unser Bruttosozialprodukt? Muss es hier heute „Literatur contra work“ statt „Literatur@work“ heißen? Wir müssen dieser Frage nachgehen …
Auf einer sehr schönen Geburtstagsfeier (danke nochmal, B.!) verbrachten wir kürzlich in größerer Runde eine der späteren Stunden damit, uns gegenseitig Lektüren zu empfehlen. Die Frage: „Welche zwei, drei Bücher, die du in letzter Zeit gelesen hast, empfiehlst du weiter?“ Meine literaturbegeisterte Nachbarin schloss das Plädoyer für ihren Tipp mit dem folgenden Satz: „Ich habe wirklich überlegt, mich bei der Arbeit krank zu melden, um dieses Buch endlich zu Ende zu lesen.“
Ist das mal ein Kompliment für ein Werk? Von einer Geschichte so gefangen zu sein, dass jede andere Tätigkeit einem wie Zeitverschwendung vorkommt? Dieses Phänomen beschreibt der englische Schriftsteller Alan Bennett in seiner witzigen Erzählung „Die souveräne Leserin“ (2008), in der die britische Königin Schritt für Schritt zur passionierten Literaturliebhaberin wird:
„Am nächsten Morgen hatte sie leichten Schnupfen, und da keine Termine anstanden, blieb sie im Bett und sagte, sie spüre eine Grippe im Anzug. Das war ungewöhnlich und außerdem unwahr; in Wirklichkeit wollte sie nur in ihrem Roman weiterkommen. ‚Die Queen hat eine leichte Erkältung‘, wurde der Nation mitgeteilt, nicht mitgeteilt wurde ihr jedoch, was die Queen selbst noch nicht wusste, dass dies nämlich nur die erste einer ganzen Reihe von Ausreden war, manche von ihnen mit weitreichenden Folgen, die ihre fortgesetzte Lektüre bald erfordern würde.“ Und an späterer Stelle schreibt Bennett: „Doch so sehr das Lesen sie auch in Anspruch nahm, mit einem hatte die Queen nicht gerechnet: wie sehr es die Begeisterung für alle anderen Tätigkeiten dämpfte.“
Und während in „Die souveräne Leserin“ alles auf die Abdankung der Queen hinläuft, hat meine Nachbarin natürlich nicht bei der Arbeit gefehlt! Sondern insgesamt mehr als drei Wochen für das Buch gebraucht. Meine persönliche These dazu: Wer viel liest, ist moralisch soweit gestählt, dass er sich selbstverständlich nicht auf Kosten der Firma und der Kollegen ungerechtfertigte Freizeit verschafft. Außerdem ist er nicht so blöd, seinen eigenen Arbeitsplatz aufs Spiel zu setzen.
So, und jetzt gebe ich gerne den Tipp des Abends weiter: Das Œuvre, das offenbar unsere Volkswirtschaft bedroht, heißt „City on Fire“ (2016). Es ist der Debütroman des New Yorker Autors Garth Risk Hallberg (geb. 1978), dem neuen Star der amerikanischen Literaturszene. Wirklich sehr, sehr lang (fast 1100 Seiten), und offenbar so komplex, dass er mit einer Besetzungsliste geliefert wird. Ein Großstadtroman, der im New York der siebziger Jahre spielt. Ich habe inzwischen die ersten Seiten gelesen. Ich glaube, ich spüre einen leichten Schnupfen…