„Mein Buch brauchen Sie gar nicht ganz zu lesen.“ … Na ja, ganz so hat er es nicht gesagt, Adolf Muschg (geb. 1934), Schweizer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Büchner-Preisträger. Aber in seinem neuesten Buch („Glasperlenspiel und Lebenskunst. Fünf Reden über Hermann Hesse“, 2016), schlägt er tatsächlich vor, aus seinen Romanen „erst mal mitzunehmen, was Ihnen ins Auge springt“. Wenn das Buch Glück habe, stelle sich dann ein Zusammenhang her.
Eine schöne Idee. Eine praktikable Idee und ein guter Weg, mit all‘ den Büchern umzugehen, die uns interessieren und noch interessieren werden. Das erinnert mich an ein Gespräch zwischen den beiden Literaturkritikern Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) und Elke Heidenreich (geb. 1943) auf der lit.COLOGNE vor etlichen Jahren. Es ging darum, wie man mit dem riesigen Büchermarkt von 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr zurechtkommen könne. Heidenreich fragt Reich-Ranicki: „Wie wählen Sie die Bücher aus?“ Daraufhin entwickelt sich der folgende Dialog:
MRR: „Sie fragen, wie ich die Bücher auswähle. Ich werde etwas sagen, was ganz riskant ist. Ich werde immer missverstanden. Und es wird die Hälfte der Leute hier im Saal mich missverstehen, ich fürchte es. Ich nehme ein Buch in die Hand, lese die ersten zehn, zwanzig Zeilen, und sage: Danke, nein!“
EH: „Zeilen? Das ist falsch.“
MRR: „Halt, halt, halt!“
EH: „Sehen Sie, das ist falsch. Das geht nicht. Dann sagen Sie wieder, das spielt in Lappland, da ist es immer dunkel, das interessiert mich nicht.“
MRR: „Nein, nein, nein. Alles falsch. Sie haben mich schon missverstanden. Sofort wird zitiert, ich wüsste nach zehn, zwanzig Zeilen, ob ein Buch gut oder schlecht ist. Das hab‘ ich nicht gesagt. Das weiß ich nicht.“
EH: „Sie sagen: ‚Das interessiert mich nicht‘.“
MRR: „Nein, ich sage was anderes. Wer so schlechte Sätze schreibt, und zumal am Anfang, das ist literarisch wertlos. […] Nein, nein, passen Sie auf, jetzt wollen wir das… ernste Frage. Es ist unmöglich, auf Grund der zwanzig Zeilen oder der ersten Seite zu sagen, gut oder schlecht. Es ist nur möglich, dass man sofort sagt: ‚Das kommt nicht in Frage‘. Ich gebe ein unappetitliches Beispiel: Sie nehmen eine Flasche Parfum, öffnen, aber es stinkt. Na, dann wissen Sie doch, dass das Parfum schlecht ist. Dann brauchen wir nicht die ganze Flasche…“
EH: „Einspruch…“
MRR: „Sie lesen von einem Roman die ersten zwanzig Zeilen. In schauderhaftem Deutsch. Das brauchen Sie nicht weiterzulesen.“
Natürlich sei es, so Reich-Ranicki, nicht garantiert, dass dann wirklich der ganze Roman gut ist. Aber immerhin ist es dann möglich. Und auch oft der Fall. Das zeigen uns zum Beispiel die berühmten ersten Sätze der großen Romane: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ (Lew Tolstoi, Anna Karenina, 1877/78). „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ (Marcel Proust, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, 1913-1927) oder „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ (Thomas Mann, „Joseph und seine Brüder“, 1933-1943).
Also, achten wir auf die Anfänge und dann: Knallhart aussieben! Die Zeit ist zu knapp für schlechte Bücher!