Was wir haben und was wir sind

Ich wusste gar nicht, auf welch zartem Papier Lebensmittelmarken gedruckt worden sind. Neulich hatte ich zum ersten Mal welche in der Hand. Ganz fein und empfindlich sind diese Bögen, und schon diese Zartheit symbolisiert den Wert, den sie damals, in diesem Fall kurz nach dem Krieg, für ihre Besitzerin gehabt haben müssen. Brot, Fett, Butter, Zucker oder Fleisch konnte sie damit kaufen. Ein Pfund, ein halbes Pfund oder 100 Gramm, je nachdem. Die Marken stammen aus dem Besitz einer alten Dame, die vor kurzem gestorben ist. Ihr Sohn hat mir ihre Geschichte erzählt:

Geboren 1924, eine unbeschwerte Kindheit in Hamburg-Rothenburgsort, nach der Schule draußen spielen und schwimmen in der Elbe, dann eine Ausbildung zur Drogistin. 1943 waren die Plätze der Kindheit – die Häuser, die Straßen, alles – verloren. Der Neuanfang nach dem Krieg begann für die junge Frau in einer Holzhütte auf vier mal vier Metern. Dort verkaufte sie mit ihrem Mann Tapeten, Bodenbeläge und Farben. Diese Dinge wurden im ausgebombten Hamburg, wo Hunderttausende keine Wohnung mehr hatten, ganz dringend gebraucht. Das Paar wohnte in einem einzigen Zimmer, und auf dem Grundstück dahinter bauten die beiden Kartoffeln und Salat an. So sorgten sie für das Notwendigste – für sich und andere – und begannen, nach dem Krieg wieder zurechtzukommen.

Der berührende Kontrast dazu: Genau dort, in unmittelbarer Nähe dieser damaligen Holzhütte, schiebt sich heute auf einer sechsspurigen Straße jeden Morgen und jeden Abend eine endlose Autokolonne vorbei. In diesen Autos sitzen Menschen, die irgendwo in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen in der Pampa wohnen, weil Hamburg keinen Platz für sie hat. Und, auch dort, wo die Hütte einmal war, steht heute ein riesiger hässlicher Koloss, ein fensterloser Bunker mit sogenannten „Selfstorage-Lagerräumen“. Wohnraum haben wir nicht in Hamburg, aber offensichtlich Platz ohne Ende für Krempel, den keiner braucht …

70 Jahre liegen zwischen diesen beiden Szenarien am selben Ort in Hamburg. Sieben Jahrzehnte, und was ist in ihnen aus uns geworden? Eine Konsumgesellschaft, die keinen Platz mehr für Menschen in den Städten hat? Aber für Dinge, die nicht benutzt werden? Für Konsumgüter? Für Besitz? Von den sogenannten Selfstorage-Lagern gibt es allein in Hamburg inzwischen Dutzende. Der Anbieter, von dessen Hochbunker ich hier spreche, wirbt tatsächlich auf seiner Homepage mit dem Satz: „Wie ein Hotel, nur für Ihre Gegenstände!“

„Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit.“  Das schreibt Friedrich Nietzsche (1844-1900) 1883 in „Also sprach Zarathustra“. Und ein paar Sätze später: „Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen.“ 

Das heißt im Umkehrschluss: Wer zu viel besitzt, wird besessen.  Was ja offenbar für viele gilt, denn die „Ich lagere meinen überflüssigen Krempel-Bunker“ sind alle ausgebucht, und außer diesem Splitter gibt es ja auch noch den Balken im eigenen Keller und in den eigenen Schränken. Also bestimmen die Dinge uns und nicht wir sie? Wahrscheinlich ist es so, und wir sind mittendrin in unserer Gesellschaft des Habens und des Haben-Wollens. Und vermutlich sind wir deswegen, weil das viel Zeit und Kraft kostet, auch nicht in der Lage, uns um Dinge wie Solidarität, Hilfsbereitschaft oder Mitgefühl zu kümmern. Schon gar nicht für Fremde.

„Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichen Rechte des Individuums in der Industriegesellschaft“, schreibt Erich Fromm (1900-1980), der große Psychologe und Sozialphilosoph, der nicht zu Beschönigungen neigte,  in einem seiner wichtigsten Werke „Haben oder Sein“.

Leider heißt das Buch „Haben oder Sein“. Das heißt, wir müssen uns entscheiden. Die Existenzweise des Habens ist bei Erich Fromm nämlich gleichzeitig die Existenzweise des Nichtseins. Und da rauszukommen ist nach all der Zeit vermutlich nicht ganz so einfach. Was machen wir denn nun, inmitten all‘ unseres Zeugs, das uns vom Sein abhält, weil es uns besitzt? Inmitten unseres Strebens nach immer mehr und unseres aus der Kontrolle geratenen Konsums? Und wir sehnen uns doch so sehr nach dem, was wir nicht haben, dem Sein …

… oder auch dem Glück, das uns die Sachen nicht geben. Wir sollen uns an unserer Tätigkeit orientieren, schlägt Erich Fromm vor. Wir könnten inneren Reichtum durch sinnvolles Tun erlangen und dadurch, dass wir unsere Fähigkeiten entfalten, unsere Phantasie und unsere Solidarität mit anderen.

Das ist eine gute Idee, nur leider verzichtet ja dabei keiner gleichzeitig freiwillig auf das Haben. Einen Vorschlag hätte ich: Wir könnten Marken drucken. Auf ganz feinem, empfindlichem Papier, damit wir den Wert erkennen. Marken für Seltene Erden für Smartphones oder das coole neue Tablet. Marken für Atomstrom für das tolle neue Elektroauto. Marken für Diesel oder Benzin für die alte oder neue Schleuder. Marken für Hühnereier aus Legebatterien. Marken für Fisch aus medikamentenverseuchter Aquakultur oder brutalem Schleppnetzfang. Marken für Klamotten, die unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden. Marken für Kosmetika oder Nahrungsmittel, die Palmöl oder Erdölderivate enthalten …

Was, schon im Juni aufgebraucht? Dann kann ja das Sein im Sommer beginnen …