„Wir können zu verhüten suchen, dass die Kinder werden wie wir“

„Chez Albert“ heißt das Pariser Restaurant, das wir gerade aus 1.500 Lego-Teilen zusammenbauen. Das ging auch ganz gut, bis uns jetzt so ein kleiner unscheinbarer Stein fehlte. Ein ganz kleiner. Flach, hellgrau, winzig. Es fand ihn schon seit Tagen keiner in diesem riesigen Plastik-Steinhaufen auf dem Fußboden. Wir Erwachsenen nicht, die Zehnjährigen nicht, die Sechsjährige auch nicht… Und jetzt: Auftritt K.! K. ist vier und kommt ins Zimmer. „Was sucht Ihr da?“ fragt er und guckt mich mit kugelrunden blauen Augen an. „Tja, also, das ist, äh, eigentlich für größere Kinder. Wir brauchen da so ein kleines Steinchen. So eins, guck‘, hier haben wir schon das gleiche hingebaut“, sagte ich. Gedacht habe ich: „Er findet den Stein doch sowieso nicht. Das ist eigentlich sinnlos. Wir können froh sein, wenn noch alles da ist, nachdem er in den Teilen rumgewühlt hat.“… K. brauchte keine 45 Sekunden, bis er das hellgraue Miniquadrat in der Hand hielt.

Ich habe ihn also insgeheim unterschätzt, und das ist peinlich. Er sich selbst aber nicht, und das ist großartig! Diesem Vierjährigen ist es noch nicht in den Sinn gekommen, an seinem Selbstvertrauen zu zweifeln oder auf die Lust, etwas auszuprobieren, zu verzichten. Er sabotiert sich im Kopf nicht selbst. Er geht an diese Aufgabe nicht mit dem Satz „Das schaffe ich bestimmt nicht“ oder sogar „Das klappt sowieso nicht“ heran. Er macht es einfach.

Petra Bock (geb. 1970), Autorin, Management-Beraterin und Coach, nennt die Selbstsabotage Erwachsener, die irgendwann hauptsächlich im beruflichen Umfeld sichtbar wird, „Mindfuck“ (2011). Und der findet nur in unserem Kopf statt, sonst nirgends. Das sind alte Denkmuster, die uns blockieren oder Angst machen. Die uns unnötige Grenzen setzen und uns daran hindern, uns selbst und anderen zu vertrauen und etwas zuzutrauen. Und die wir uns vor allem irgendwann mühsam wieder abtrainieren sollten.

Seit dem „Legostein-Vorfall“ bin ich mir wieder mal überhaupt nicht sicher, wie zuträglich der Einfluss Erwachsener auf Kinder eigentlich ist. Da fällt mir eher Erich Kästners „Ansprache zum Schulbeginn“ ein. Erich Kästner (1899-1974), der nicht nur ein phantastischer Erzähler und Lyriker, sondern auch einer unserer hervorragendsten Kinderbuchautoren war, gab Erstklässlern 1950 Folgendes mit auf den Weg – nicht gerade rosige Aussichten:

„Euch ist bänglich zumute, und man kann nicht sagen, dass euer Instinkt tröge. Eure Stunde X hat geschlagen. Die Familie gibt euch zögernd her und weiht euch dem Staate. Das Leben nach der Uhr beginnt, und es wird erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen, Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende Netz umgarnt nun auch euch. Seit ihr hier sitzt, gehört ihr zu einer bestimmten Klasse. Noch dazu zur untersten. Der Klassenkampf und die Jahre der Prüfungen stehen bevor. Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab morgen! So, wie man’s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation – das ist der Weg, der vor euch liegt.“  

Um dem zumindest ein wenig entgegenzusetzen, riet er den Kindern: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. […] Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die ‚überflüssig‘ gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun könnt ihr nicht mehr zurück! […] Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe […] und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!“

In einigen Dingen sollten wir sie vielleicht einfach mal in Ruhe lassen. Zumindest das. Damit sie nicht irgendwann so denken wie wir! Erich Kästner 1953:

„Dass wir wieder werden wie die Kinder, ist eine unerfüllbare und bleibt eine ideale Forderung. Aber wir können zu verhüten suchen, dass die Kinder werden wie wir.“