Beim Autofahren schimpfe ich angeblich ziemlich viel. Über andere, die auch Auto fahren. Das sagen zumindest diejenigen, die öfter meine Beifahrer sind, meine Kinder zum Beispiel. Ich muss jetzt immer einen Euro in unsere Familienkasse zahlen, wenn ich bestimmte Wörter am Steuer sage. (Dabei handelt es sich natürlich immer um familienfreundliche Schimpfwörter. Leicht ins Vulgäre rutsche ich nur ab, wenn ich wirklich ganz alleine bin.) A., der neulich zum ersten Mal mit mir fuhr, fand es wahnsinnig komisch, dass ich mich überhaupt an andere Autofahrer wende, obwohl die doch kein einziges Wort davon mitbekommen. Dabei hatte ich in dem Fall nur etwas schärfer einer Knalltüte, die ungebremst von links an mir vorbeischoss, hinterhergerufen: „Danke! Das wäre meine Vorfahrt gewesen.“ „Na ja“, meinte A., die Kinder hätten ihm das auch schon gesagt, dass ich beim Autofahren „wohl nicht immer ganz in meiner Mitte“ sei …
Das haben die so garantiert nicht gesagt. Es wird vermutlich wesentlich deutlicher gewesen sein, aber es ist ein schöner Euphemismus für das, was mit mir beim Autofahren passiert. Selbst kleinste Verfehlungen kommentiere ich. Jeder, der meinen Weg auch nur in kleinster Weise behindert, bekommt meine Bemerkungen ab. Schließlich sind die, die vor mir fahren, und mich auf der Straße sabotieren, ja offensichtlich in ihrer Mitte. Jedenfalls die, die mir die Vorfahrt nehmen, … und die, die mit 45 in der Stadt vor mir herschleichen, … und die, die einfach anhalten ohne zu blinken. Oder diejenigen, die mit 120 auf der A7 auf der linken Spur fahren.
Wenn ich dann dort ankomme, wo ich hin möchte, bin ich aber sehr ausgeglichen. Meine Aggressionen bin ich los, und es hat niemand – egal ob in beruflichen oder in privaten Zusammenhängen – irgendwelche Grobheiten von mir zu erwarten. Ich bin dann alles Unterschwellige losgeworden. An Adressaten, die es nie erfahren werden. Und ich zahle dafür gerne die 30 oder 40 Euro monatlich in die Familienkasse. Ja, auch im Luther-Jahr muss ich zugeben, dass ich eine Art Ablasshandel betreibe. Ich zahle und darf dafür im Auto schimpfen. Und das steht, auch 500 Jahre später, klar gegen Martin Luthers 27. von 95 Thesen: „Lug und Trug predigen diejenigen, die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt.“
Und es steht auch gegen Thomas Manns (1875-1955) wunderbare Formulierung, die sich kultiviert gegen verbale Grobheiten wendet: „Denn die Zartheit ist tapfer, und wo vierschrötige Derbheit simpel sich auslässt, schließt jene die Lippen und nimmt sich zusammen.“ („Gesang vom Kindchen“, 1919)
Im Auto lasse ich mich in „vierschrötiger Derbheit simpel aus“. Ich nehme mich dafür aber hinterher zusammen und beweise dann tapfere Zartheit. Ich bin normalerweise wirklich friedfertig. Und ich hoffe für die Menschen um mich herum, dass es zu meinen Lebzeiten nicht mehr zum selbstfahrenden Auto kommen wird. Ich kann ja nur Menschen angehen, die selbst für ihre unzulängliche Fahrweise verantwortlich sind. Ich kann ja keine Roboter beschimpfen. Und wohin dann mit meinen Aggressionen?
Noch lacht A. über mich. Er weiß offenbar noch gar nicht, welchen Vorteil meine Ausfälligkeiten am Steuer für ihn in sich bergen. Allerdings: A. ist Pastor. Wir werden über Luthers 27. These reden müssen.