Alles wollen wir sein. Alles. Nur nicht wir selbst. Der Veränderungs- und Optimierungswahn ist kaum noch zu übersehen. Äußerlich macht er sich natürlich am ehesten bemerkbar: Zähne können nicht weiß genug gebleacht werden, die Haut kann nicht straff genug sein. Wer heute noch seine natürliche Haarfarbe trägt, muss schon als verschroben gelten. Frauen wollen keine Frauen sein, sondern Mädchen in Kleidergröße 32 (höchstens!). Männer wollen keine Männer sein, sondern witzige Jugendliche in zu engen Jacken mit Wollmützen auf dem Kopf.
Und der innere Zwang zur Perfektion? Zur Anpassung?… Ist weniger augenfällig, hat aber auf unsere Persönlichkeit wohl noch größeren Einfluss. Manfred Lütz, Psychiater und Bestsellerautor („Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens“) warnt vor der Masse an Gebrauchsanleitungen, wer wie zu sein hat: „Beispiel Bewerbungstraining: Da wird geraten, nicht die Arme zu kreuzen oder dem Chef ins Wort zu fallen. […] Wie soll ich einen Menschen kennenlernen, wenn er sich vorher eine Methode angeeignet hat?„ (stern, 30.12.2015) Recht hat er! Was für eine absurde Vorstellung, dass wir beruflich und privat als mehr oder minder präparierte, als mehr oder minder begabte Schauspieler agieren. Für wen eigentlich?
Vielleicht sollten wir uns langsam mal wieder auf uns selbst besinnen. Hermann Hesse (1877-1962) empfiehlt uns dazu im Jahr 1917 eine Tugend, die nützlich sein kann…
„Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. – Von allen den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern lesen und von Lehrern reden hören [Achtung! Siehe oben: Gebrauchsanweisungen!], kann ich nicht so viel halten. Und doch könnte man alle die vielen Tugenden, die der Mensch erfunden hat, mit einem einzigen Namen umfassen. Tugend ist: Gehorsam. Die Frage ist nur, WEM man gehorche. Nämlich auch der Eigensinn ist Gehorsam. Aber alle andern, so sehr beliebten und belobten Tugenden sind Gehorsam gegen Gesetze, welche von Menschen gegeben sind. Einzig der Eigensinn ist es, der nach diesen Gesetzen nicht fragt. Wer eigensinnig ist, gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.“
„Was heißt denn ‚Eigensinn?“, fragt er. „Das, was einen eigenen Sinn hat. Oder nicht?“ Und die Suchenden, die Zweifelnden tröstet Hesse: „Wenn Sie dazu geboren sind, ein eigenes und kein Dutzendleben zu führen, so werden Sie den Weg zur eigenen Persönlichkeit und zum eigenen Leben auch finden, obwohl es ein schwerer Weg ist. Wenn Sie nicht dazu bestimmt sind, wenn die Kraft nicht reicht, so werden Sie früher oder später verzichten müssen und werden sich der Moral, dem Geschmack und der Sitte der Allgemeinheit anschließen.“
Nein! Machen wir nicht! Oder…?