Lesen, ehe der Arzt kommt

sofa_rega_blogWenn jemand eins seiner Bücher schon „Lyrische Hausapotheke“ nennt, dann sollten wir da vielleicht einfach mal reingucken. Hört sich nach Beistand in schwierigen Lebenslagen an. „Jemand“ ist natürlich nicht irgendjemand, sondern Erich Kästner (1899-1974). „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ heißt seine Zusammenstellung von Gedichten aus den 20er- und 30er-Jahren.

Kästners Absicht: „Seelisch verwendbare Strophen“ wollte er schreiben. „Ein der Therapie dienendes Taschenbuch. Ein Nachschlagewerk, das der Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens gewidmet ist.“ „Wer Kopfweh hat, nimmt Pyramidon. Wer an Magendrücken leidet, schluckt doppeltkohlensaures Natron. Bei Halsschmerzen gurgelt er mit Wasserstoffsuperoxid. Und in dem Schränkchen, das Hausapotheke heißt, halten sich, dem Menschen zu helfen, überdies Baldrian, Leukoplast, Choleratropfen, Borsalbe, Pfefferminztee, Mullbinden, Jodtinktur und Sublimatlösung in Alarmbereitschaft. Aber manchmal helfen keine Pillen.“

Dann helfen eben Worte… Glücklicherweise ist die „Lyrische Hausapotheke“ keine „Arzneiflasche ohne Etikett“. Sondern wir bekommen für jedes Problem die richtigen Seitenzahlen an die Hand. Da gibt es Gedichte für Situationen wie „wenn die Besserwisser ausgeredet haben“, „wenn das Selbstvertrauen wackelt“, „wenn man sich über Zeitgenossen geärgert hat“ oder „wenn vom Fortschritt die Rede war“.

Wenn mal wieder vom Fortschritt die Rede war, schlagen wir „Entwicklung der Menschheit“ auf:

„Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,/ behaart und mit böser Visage./ Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt/ und die Welt asphaltiert und aufgestockt,/ bis zur 30. Etage. //  Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,/ in zentralgeheizten Räumen./ Da sitzen sie nun am Telephon./ Und es herrscht noch genau derselbe Ton/ wie seinerzeit auf den Bäumen. //[…] Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr./ Sie jagen und züchten Mikroben./ Sie versehn die Natur mit allem Komfort./ Sie fliegen steil in den Himmel empor/ und bleiben zwei Wochen oben.// […] So haben sie mit dem Kopf und dem Mund/ den Fortschritt der Menschheit geschaffen./ Doch davon mal abgesehen und/ bei Lichte betrachtet, sind sie im Grund/ noch immer die alten Affen.“

Und wenn das Selbstvertrauen wackelt?… „Warnung“!

Ein Mensch, der Ideale hat,/ der hüte sich, sie zu erreichen!/ Sonst wird er eines Tages anstatt/ sich selber andren Menschen gleichen.“

Und ein drittes Heilmittel von Doktor Kästner (Dr. war er wirklich, allerdings kein Mediziner, sondern Doktor der Philosophie). Was tun, wenn die Besserwisser ausgeredet haben? „Nur Geduld!“

Das Leben, das die Meisten führen,/ zeigt ihnen, bis sie’s klar erkennen:/ Man kann sich auch an offnen Türen/ den Kopf einrennen!“

Erich Kästner können wir vertrauen. Er wusste, was er schreibt. Seinen Ratschlägen können wir folgen, denn sein Leben und sein Schreiben waren ein Aufrechtbleiben in schweren Zeiten. Er verbitterte nicht, obwohl er aus ärmsten Verhältnissen kam und sich schon als Kind mehr um seine psychisch kranke alleinerziehende Mutter sorgte als sie sich um ihn. Er machte weiter, obwohl er als 17-Jähriger zum Ersten Weltkrieg eingezogen wurde, „und die halbe Klasse ist schon tot“. Er gab nicht auf, obwohl er am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz stand und sah, wie seine Bücher ins Feuer geworfen wurden. Er überlebte, obwohl seine Heimatstadt Dresden am 13. Februar 1945 im Feuersturm unterging. Und er blieb stark, als er nach 1945 dafür diffamiert wurde, in Deutschland geblieben zu sein.

Ein „Obwohl“ ist sein Werk. Ein „Dennoch“. Sein vielfach erprobter Rat, den wir dort immer wieder finden, heißt: „Humor, Zorn, Gleichgültigkeit, Ironie, Kontemplation und Übertreibung.“

Sehen wir mal, ob unsere Problemchen wirklich so schlimm sind. Und dann suchen wir uns was aus.