Endlich am Anfang

leeres_buch_blogDas Buch ist schon alt. Ein bisschen mitgenommen auch. Auf der ersten Vorsatzseite steht eine persönliche Widmung für mich. Es hat fast 1000 Seiten. Das allerletzte Wort darin heißt „Amen“ und der erste Satz „Singet dem HErrn ein neues Lied“. Nein, es ist nicht die Bibel. Die ist dicker, und da heißt der erste Satz „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Es ist mein Gesangbuch, das mit mir schon unendlich vieles durchgemacht hat. Schönes, Trauriges, Bewegendes. Freude, Tränen, Rührung. Und es gibt einen Tag im Jahr, an dem ich es am liebsten in die Hand nehme: den ersten Advent.

Weil dann alles wieder offen ist. Wir singen in der rappelvollen Kirche traditionellerweise gleich zum Auftakt Lied 1. Alles auf Anfang. Alles wieder von vorn. Egal, wo die Lesebändchen noch stecken, sei es bei den Liedern der letzten Taufe, der Beerdigung im Herbst oder zwischen den Seiten des Totensonntags – jetzt ist angesagt Lied 1, Strophen eins bis drei: „Macht hoch die Tür“. Alles beginnt wieder, heißt das das. Öffnet euch! Schaut nach vorne! Wir können das alte Buch wieder am Anfang aufschlagen. Endlich!

Wie unser eigenes Buch, unser Leben, auch. Hinter uns liegen vollgeschriebene Bücher mit Erfahrungen, Erkenntnissen und Einsichten. Die nehmen wir mit. Aber jetzt ist wieder alles möglich. Neue Entscheidungen. Neue Wege. Wir können mutiger, klarer, entschlusskräftiger werden. Ehrlicher zu uns und anderen. Oder auch nachsichtiger, bedächtiger, bescheidener. Wie auch immer. Wir können an Weggabelungen eine andere Seite wählen als das letzte Mal. Unser Buch ist, wenn wir das zulassen, vor uns noch leer.

Anfänge guter Bücher sind immer gut. Aber sie könnten auch anders lauten. Welche der folgenden Passagen ist der echte Einstieg in „Der große Gatsby“ (1925) von F. Scott Fitzgerald (1896-1940)?

„In meinen jüngeren Jahren, als ich noch zarter besaitet war, hätte mich seine herablassende Art aufgeregt, ja, mir wahlweise Scham oder Zornesröte ins Gesicht getrieben. So aber sagte ich nonchalant, mit inzwischen antrainierter, wendiger Gelassenheit: ‚Das ist mein Haus, meine Party, und Daisy gehört seit dem heutigen Abend mir.‘ – ‚Das werden wir noch sehen‘, zischte er aus zusammengepressten Zähnen heraus, hackte die Schuhe zusammen und machte auf dem Absatz kehrt.“

Oder:

„In meinen jüngeren Jahren, als ich noch zarter besaitet war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir seitdem wieder und wieder durch den Kopf gegangen ist. ‚Bedenke‘, sagte er, ‚wenn du an jemandem etwas auszusetzen hast, dass die meisten Menschen es im Leben nicht so leicht gehabt haben wie du.‘ Weiter sagte er nichts, aber da wir uns auf eine scheue Art immer ungewöhnlich gut verstanden, begriff ich, dass er damit sehr viel mehr gemeint hatte.“

Und hier zwei mögliche Anfänge für Wolfgang Herrndorfs (1965-2013) „In Plüschgewittern“ (2002):

„Ich stehe auf der Autobahnraststätte Würzburg-Haidt, in der Nähe der Ausfahrt, und mir ist schlecht. Ich habe angehalten, weil ich Hunger hatte auf eine Brezel und das grauenhafte ‚Guten Tag‘ des Kassierers. Jetzt aber habe ich eher Lust, mich vor ein Auto zu werfen, die Frage ist nur, vor was für eins.“

Oder:

„Ich stehe auf der Autobahnraststätte Würzburg-Haidt, in der Nähe der Ausfahrt, an einen blauen Mietlaster gelehnt. Es ist früher Nachmittag. Neben mir steht Erika, ihre Schultern pendeln vor und zurück, sie schluchzt. Sie macht ganz seltsame Geräusche, wie ein Hund in Atemnot. Ich hab so etwas noch nie gehört.“

Alle vier Buchanfänge sind super! Die jeweils zweiten stammen von Fitzgerald und Herrndorf. Die ersten sind Ergebnisse des Spiels „Mimikry“. Dabei geht es darum, Buchanfänge zu faken. Man muss so gut sein, dass die Mitspieler den eigenen Text für das literarische Original halten. („Mimikry. Das Spiel des Lesens“, hg. v. Philipp Anders und Holm Friebe, 2016; Die oben zitierten Texte stammen von zwei Teilnehmerinnen der legendären Berliner Runde von 2015, Ulrike Guérot und Brittani Sonnenberg.)

Andere Anfänge sind eben auch gut. Sie müssen nicht besser sein. Können sie aber. Und vor allen Dingen müssen sie zu uns passen. Wir schreiben unser Buch selbst. Ab heute wieder.