Wir brauchen ein paar Verrückte!

Wie viele schwarz umrandete kleine Quadrate sind auf dem Foto zu sehen? Und wie viele Wege gibt es, das zu berechnen? Es sind 41 Vierecke, und es gibt mehr als zehn Möglichkeiten, um immer wieder zu diesem Ergebnis zu kommen. Einige der Wege sind eleganter, andere verwegener, wieder andere brav und spießig. Und ganz andere völlig ungewöhnlich. Einige sind schon ein richtig großer Wurf, verrückt fast. Falsch ist keiner.

Diese Aufgabe begegnete uns in der vergangenen Woche. Die Grundschulkinder des „PriMa“-Projektes an der Hamburger Uni („Förderung mathematisch besonders interessierter und begabter Schüler“) durften mal ihre Eltern mitbringen. Ich hatte schon den Verdacht, dass die als harmloser Adventsnachmittag getarnte Veranstaltung uns Großen mal zeigen sollte, wie blöd wir eigentlich sind. Aber ganz so schlimm wurde es gar nicht. Jedenfalls zunächst nicht. Es wurde sogar philosophisch! Prof. Dr. Marianne Nolte, die das Projekt leitet, begrüßte die Kinder mit den Worten: „Ihr sollt hier lernen, dass andere anders denken. Und dass das nicht falsch sein muss, sondern dass ihr trotzdem zum selben Ergebnis kommen könnt.“ 

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) schwingt da mit, das große Universalgenie, das uns zeigte, dass alles miteinander zusammenhängt, vor allem die Mathematik und die Philosophie. Und Immanuel Kant (1724-1804) hören wir durch, nämlich mit seinem Diktum, dass es niemals nur eine Wahrheit gibt. Und der Satz von Anthony de Mello (1931-1987), dem indischen Jesuitenpriester, kam mir in den Sinn: „Nur zu oft sehen wir die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie WIR sind.“

Andere denken anders. Andere sehen die Welt anders. Und das muss nicht falsch sein. Ganz im Gegenteil, wir profitieren genau davon. Vor allem von den Gedanken und Ideen, die nicht sofort auf der Hand liegen. Gabor Steingart, Herausgeber des „Handelsblatts“, stellt seinem neuesten Buch „Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung“ (2016) ein wunderbares Zitat des irischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers George Bernard Shaw (1856-1950) voran:

„Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Wohin uns die Normalen gebracht haben, illustriert Steingart in vielen Beispielen. Eins davon aus der Politik, genau genommen aus der Parteipolitik, die uns alle inzwischen so sehr anödet:

„Die Parteifunktionäre sind schon lange nicht mehr die Vorhut der Gesellschaft, sondern deren tragische letzte Kompanie, der man vergessen hat mitzuteilen, dass die Schlacht irgendwo zwischen Antragskommission und Programmparteitag verloren worden ist. […] Einen leidenschaftlichen Politiker, bei dessen Worten die Menschen das Radio lauter drehen, haben die Parteien schon lange nicht mehr hervorgebracht. Stattdessen betrat der politische Leichtmatrose die Bühne, der am Wahlsonntag mit weinerlicher Stimme den Machtverfall der Volksparteien beklagt, um danach für weitere vier Jahre in der Kulisse des Bundestags zu verschwinden. Sein Erkennungszeichen ist die grau gefärbte Ideenlosigkeit, sodass die Moderatorinnen der Talksendungen gar nicht erst auf die Idee kommen, bei ihm durchzuklingeln. Wahre Demokratie lebt nicht nur vom Miteinander, sie lebt in weit höherem Maße vom Gegeneinander der Akteure. Erst Reibung erzeugt Energie. Doch die Unterschiede zwischen den Abgeordneten der großen Parteien sind heute ähnlich markant wie die zwischen Cola Light und Cola Zero.“

Leider stimmt das nur allzu sehr. Und nicht nur auf diesem Gebiet… Also, denken wir wieder verrückter und sagen das auch! So wie der Mathe-Tutor in der vergangenen Woche vor den 41 Quadraten: „Ich mag am liebsten die Lösung 8 mal 5 plus 1“, sagte er am Ende und kritzelte noch schnell ein paar Figuren an die Tafel. Das war blöderweise der Moment, in dem ich nicht mehr mitkam. Leider sah man das auch: „Mama, du guckst so angestrengt“, bemerkte unser Sohn. Ich muss an meiner Mimik arbeiten. Für Momente wie diesen im Zeitalter der Überforderung.