Gedankensplitter

Krieg und Frieden von Lew Tolstoi. 2288 Seiten. Anna Karenina, auch Tolstoi. 1288 Seiten. Große Romane, breite Epen, perfekt angelegte Gesellschafts- und Charakterstudien. Psychologisch von selten erreichter Raffinesse. Die große Kür der Literatur. Und wer war einer der Lieblingsschriftsteller Tolstois? Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) aus Ober-Ramstadt bei Darmstadt.

Lichtenberg war – wie damals noch häufiger anzutreffen – Universalgelehrter. Mathematiker, Physiker, Chemiker, bewandert in Astronomie und Meteorologie. Berühmt geworden und unvergessen ist er allerdings als Schriftsteller. Georg Christoph Lichtenberg ist der Erfinder des deutschsprachigen Aphorismus.

Der Aphorismus ist die kleinste Form der Literatur. Einzelne Sätze, vielleicht zwei oder drei. Aber die haben es in sich. Es sind prägnant formulierte, schlagkräftige Gedanken, Urteile oder Erkenntnisse. Auch Fragen können es sein. Das treffendste deutsche Wort ist vermutlich „Gedankensplitter“. Und diese kleine literarische Form kann so groß sein. Einer der Sätze von Lichtenberg heißt: „Die größten Dinge in der Welt werden durch andere zuwege gebracht, die wir nichts achten, kleine Ursachen, die wir übersehen und die sich endlich häufen.“

Auf den Geist wirkt der Aphorismus wie die Kneipp’sche Anwendung auf den Körper: Der Reiz wird gesetzt, und dann erst kommt der eigentliche Prozess in Gang. Der gute Aphorismus setzt den Reiz, an dem wir gedanklich weiter arbeiten. Er ist ein Reflexionsmedium, eine Anregung zum Denken. Deswegen gibt es heute ein paar jobtaugliche Lichtenberg’sche Aphorismen. Aufgeschrieben zwischen 1765 und 1799. Aktuell und zeitlos wie damals. Als Kneipp’schen Guss für den Kopf, als Katalysator des Philosophierens…

 

„Heftigen Ehrgeiz und Mißtrauen habe ich noch allemal beisammen gesehen.“

„Wenn man einen guten Gedanken liest, so kann man probieren, ob sich etwas Ähnliches bei einer anderen Materie denken und sagen lasse.“

„Alles gelernt, nicht um es zu zeigen, sondern um es zu nutzen.“

„Die kleinsten Unteroffiziere sind die stolzesten.“

„Bei wachender Gelehrsamkeit und schlafendem Menschenverstand ausgeheckt.“

„Wir ziehen unsere Köpfe in Treibhäusern.“

 

Kompromissloser als der Aphorismus ist wohl nur noch der kürzeste aller Sätze – die Formel. So etwas wie E = mc². Albert Einstein, 1915. Und wer war einer der Lieblingsautoren Albert Einsteins? Georg Christoph Lichtenberg!