„Richtiges Lesen ist Bürsten gegen den Strich“

 

bauer_blog„Similarity attraction“ heißt in der psychologischen Fachsprache das, was auf deutsch „Gleich und Gleich gesellt sich gern heißt“. Wir mögen den, der uns ähnlich ist. Wir suchen uns zum Beispiel lieber gleichaltrige Freunde als viel jüngere oder ältere. Unsere Freunde sollten sich für die Dinge interessieren, die wir gut finden. Sie sollten entsprechende politische Ansichten haben. Einen vergleichbaren Konsumstil. Vom Bildungsniveau mal ganz zu schweigen!

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom vergangenen Wochenende schreibt Annemarie Diehr ausführlich darüber, was uns dabei eigentlich entgeht: „Wir geben uns vielseitig interessiert, weltoffen und kritikfähig, wollen Menschen unsere Freunde nennen, die uns Unbekanntes zeigen, unseren Horizont erweitern und uns in unserer Entwicklung vorantreiben, indem sie uns auch mal die Meinung sagen. Warum limitieren wir unsere Welt dann freiwillig, indem wir uns mit Menschen umgeben, die uns lediglich in dem bestätigen, was wir ohnehin sind?“

Ein wahrer Gedanke und eine wirklich gute Frage. Und wenn wir, wie es in unzähligen Zitaten nachzulesen ist, Bücher mit Freunden vergleichen, die uns etwas zu sagen haben, und wenn wir Bücher, wie der große Schriftsteller Jean Paul (1763-1825) als „dickere Briefe an Freunde“ ansehen, dann sollten wir auch beim Lesen einmal unser Verhalten überdenken. Wenn Literatur uns zum Querdenken anregen soll, wenn sie uns inspirieren soll und unser Herz und unseren Verstand weiten, dann dürfen wir nicht immer nur auf Altbekanntes zurückgreifen…

„Man sollte niemals ein Buch lesen, bloß weil es auf irgendeiner Bestsellerliste steht oder weil es einem zeitgenössischen Trend entspricht. Richtiges Lesen ist Bürsten gegen den Strich“, forderte Doris Lessing (1919-2013), die britische Literatur-Nobelpreisträgerin. Damit es dazu werden kann, könnten wir doch mal Folgendes tun:

 

  1. Ein Buch lesen, von dessen Autor oder Autorin wir noch nie gehört haben.
  2. Ein Buch aus einem Verlag lesen, den wir nicht kennen.
  3. Ein Buch lesen, das in einem Land spielt, das uns völlig unbekannt ist.
  4. Ein Buch lesen, das in einer Zeit spielt, zu der wir bis jetzt keinen Zugang haben.
  5. Ein Buch von einem Schriftsteller lesen, der viel jünger ist als wir.
  6. Ein Buch von einem Schriftsteller lesen, der in einem vergangenen Jahrhundert gelebt hat.

Und, ganz wichtig um nicht in die Selbstblockade- und Uniformierungsfalle zu gehen: Hüten wir uns vor den Empfehlungen, die uns die großen Internetbuchhändler machen. Die heißen dann nämlich „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kaufen auch…“ oder sind – ganz prosaisch – „inspiriert von Ihrem Browserverlauf“