So, … die Geschichte, die ich Ihnen hier heute auftische, glauben Sie mir sowieso nicht. Ich erzähle sie Ihnen aber trotzdem: In der vergangenen Woche traf sich aus einem traurigen Anlass ein Großteil unserer Familie. Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen aus Westfalen, Niedersachsen, Hamburg, Mecklenburg… Dabei waren auch meine Cousine und mein Cousin aus Schwerin. Ich kannte die beiden bis dahin nicht. Vor der Wende konnten zwar mein Onkel und meine Tante uns ab und zu im Westen besuchen, nicht aber deren Kinder. Und später fehlte dann einfach die Gelegenheit…
Meine Cousine und ich kamen ins Gespräch über Schwerin. Sie erzählte mir von ihrem Ferienhaus an einem der umliegenden Seen, das sie auch vermietet. Genau an diesem See hatte ich vor zwei Jahren gewohnt, auch in einem Ferienhaus, um in der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern zu arbeiten. Als ich ihr das beschrieb, guckte sie mich an und fragte: „Sag‘ mal, … hast du das Haus nicht bei mir gemietet?“… Und obwohl der Groschen eigentlich schon gefallen war, fragte ich sie, wie sie jetzt heiße. Unser Mädchenname ist derselbe, aber den tragen wir ja beide nicht mehr. Und danach stand fest: Ich hatte vor zwei Jahren bei meiner eigenen Cousine ein Haus gemietet und bei ihr persönlich die Schlüssel abgeholt. Aber wir hatten uns eben nicht erkannt… Wir waren beide einen Moment lang fassungslos und überrascht. Dann fing sie sich als erste, und ihr nächster Satz war: „Meike, ab jetzt kannst du umsonst bei mir wohnen.“
Neben den Binsenweisheiten, dass die Welt klein ist und dass man sich immer zweimal trifft, zeigt dieser Zufall – wenn es denn einer ist -, dass die Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung noch immer unendlichen literarischen Stoff bietet. Damit meine ich die Geschichten, die wir uns erzählen müssen. Viele mit einem glücklichen, berührenden Ende. Und viele, viele traurige. Die Tatsache, dass wir mehr als 40 Jahre lang zwar eine Nation aber zwei Staaten waren, wird uns noch lange beschäftigen.
Mehr als jeder andere war der Schriftsteller Walter Kempowski (1929-2007) der Zeuge dieser Zeit. „Deutsche Chronik“ heißt seine Romanserie, in der wir dem Geschick seiner Familie von etwa 1900 an folgen können. Die bekanntesten Titel sind „Tadellöser und Wolff“ (1971), „Schöne Aussicht“ (1981) und „Uns geht’s ja noch gold“ (1982). Walter Kempowski wurde in Rostock geboren. Nach seiner achtjährigen Willkür-Haft im DDR-Zuchthaus Bautzen lebte er in der Nähe von Bremen. Mehr als vier Jahrzehnte lang litt er unter dem Verlust seiner mecklenburgischen Heimat, bis er als 60-Jähriger den Mauerfall miterleben durfte. „Immer bin ich in Rostock gewesen, auch in den Jahren der Trennung. Ich habe diese Stadt vor und zurück beschrieben, Fotos gesammelt, ja, ich bin sogar so weit gegangen, sie in Papier nachzubauen! Sehnsucht ist gar kein Ausdruck“, schreibt er am Neujahrstag 1990 in sein Tagebuch.
In den 80er-Jahren begann Kempowski, auch biographische Materialien fremder Menschen zu sammeln: Tagebücher, Briefe, Autobiographien, Notizen und Fotographien. Er schaffte damit ein Archiv, das in seiner Breite und Intensität kaum zu fassen ist. „Ich glaube nicht, dass es einen zeitgenössischen Roman gibt, der es mit der Substanz dieses Archivs aufnehmen könnte. Das fasziniert mich“, sagte Walter Kempowski in einem Interview. „Echolot“ nennt er dieses Mammutprojekt, in dem er historisches Material sichtet, sortiert und zu Collagen verarbeitet. „Echolot“, weil er mit diesem „kollektiven Tagebuch“ den Grund abtasten will.
„Seit langem bin ich wie besessen von der Aufgabe zu retten, was zu retten ist“, schreibt er im Vorwort. „Als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein. Wir sollten den Alten nicht den Mund zuhalten, wenn sie uns etwas erzählen wollen, und wir dürfen ihre Tagebücher nicht in den Sperrmüll geben, denn sie sind an uns gerichtet – die Erfahrungen ganzer Generationen zu vernichten, diese Verschwendung können wir uns nicht leisten. Wir müssen uns bücken und aufheben, was nicht vergessen werden darf: Es ist unsere Geschichte, die da verhandelt wird.“
Fast nichts im Werk Walter Kempowskis ist frei erfunden, und dennoch ist es große Literatur. Wir müssen nichts erfinden, wir müssen nichts hinzudichten. Unser Leben ist generell – Literatur. Sobald wir anfangen, davon zu erzählen. Wir müssen uns bücken und unsere Geschichten aufheben. „Das Zuhören“, sagt Kempowski, „kann es möglich machen, daß wir endlich ins reine kommen miteinander.“