Schicksalsergebenheit

Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten an einem Mittwochvormittag um zehn Uhr einen Termin bei Herrn Dr. K. Sie möchten für ihn arbeiten. Sie möchten Aufträge von ihm bekommen. Dr. K. hat eine wichtige Position in einem großen Unternehmen, das am anderen Ende der Stadt liegt. Sie müssen vorher nur noch Ihre Tochter in den Kindergarten bringen und auch noch den Sohn einer Freundin, das hatten Sie ihr versprochen, allerdings geht der in einen anderen Kindergarten.

Als Sie eigentlich los wollen, müssen Sie nur noch ganz kurz ein paar Dokumente für Herrn Dr. K. ausdrucken. Warum erst jetzt? Weil Sie die Texte vom Vorabend so miserabel finden, dass Sie die nicht präsentieren wollen, sondern ältere. Diese brillante Lösung fiel Ihnen aber erst um 6.30 Uhr ein. Inzwischen ist es 7.30 Uhr, und um kurz vor acht wollen Sie den Kleinen abholen. Leider hat jetzt eine der Dateien einen so auffälligen Formatierungsfehler, dass Sie das so nicht mitnehmen können. Also planen Sie, nach der Abgabe der beiden Kinder nochmal schnell zu Hause vorbeizufahren.

Jetzt aber stehen Sie erstmal vor Ihrer Haustür und sind sich plötzlich nicht sicher, ob Sie eine schwarze oder dunkelblaue Strumpfhose anhaben. Im künstlichen Licht vor dem Kleiderschrank konnten Sie das nicht sehen, und draußen ist es immer noch dunkel. Es wäre ziemlich wichtig, dass Sie eine schwarze Strumpfhose anhaben, denn Sie tragen zum Rock einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze Stiefel. Herr Dr. K. wird um zehn Uhr sehen, ob Ihre Strümpfe die falsche Farbe haben. Sie aber wissen es jetzt einfach nicht. Sie fahren zu Ihrer Freundin.

Vor der Wohnungstür Ihrer Freundin changiert die Farbe Ihrer Strumpfhose bedrohlich ins Dunkelblaue. Ihre Freundin sagt: „Deine Strumpfhose ist blau.“ Sie gehen wieder zum Auto. Auf dem Bürgersteig treten Sie in einen Hundehaufen. Der Kleine auch. Sie fahren zum ersten Kindergarten. Jedenfalls haben Sie das vor. Ihr linker Stiefel riecht trotz aller Bemühungen immer noch komisch. 300 Meter vor dem Kindergarten, in einer engen Einbahnstraße, sitzen Sie dann hinter einem Müllwagen fest. Heute ist Mittwoch, und in Ihrem Viertel wird die blaue Papiertonne geleert. Der eine Mitarbeiter der Stadtreinigung ist offenbar neu. Normale Mülltonnen hängt er im Schneckentempo ein, bei einem größeren Rollcontainer scheitert er dann vollends. Er wartet nun auf seinen Kollegen. Sie versuchen derweil, über einen großen Parkplatz auszuweichen, auf dem mittwochs und sonnabends immer Markt ist, über den man sonst aber problemlos fahren kann. Heute ist Mittwoch, und Sie stellen sich wieder hinter das Müllauto.

Dort sehen Sie dann, dass in Ihrer Gegend Leute wohnen, die so unfassbar blöd sind, gelbe Säcke mit Plastikmüll in die Papiertonne zu schmeißen. Und auch normale Müllbeutel. Der neue Mitarbeiter der Stadtreinigung weiß jetzt auch nicht, wohin damit. Irgendwann beschließt er, den Müll mit ins Altpapier zu werfen. Es ist 8.15 Uhr, und Ihr Tag ist schon völlig entgleist. In der ersten Kita läuft soweit alles gut, außer, dass der Kleine den Hundedreck mit reingeschleppt hat, und Sie das wenigstens mit Ausdruck des Bedauerns mal ansprechen müssen. Bei der Abgabe Ihrer Tochter gibt es nur kurz Ärger, weil sie keine Mütze mit hat.  Zwei liegen zwar im Auto, aber die haben Sie vergessen, mit reinzunehmen. Ihre Tochter heult.

Dann drucken Sie die Texte aus, irgendwie geht das noch, und wollen ganz schnell über die Autobahn ans andere Ende der Stadt. Die Ampel an der Auffahrt wird grün, aber leider haben Sie übersehen, dass das erste Auto eine Fahrschule ist. Der vor Ihnen kommt noch mit rüber. Sie nicht. Später dann fährt kilometerlang eine Frau in einem hellgrünen Kleinwagen vor Ihnen. In 30er-Zonen fährt sie 25, in 50er-Zonen 45. An jeder grünen Ampel scheint sie länger überlegen zu müssen, ob sie losfahren soll oder lieber doch nicht. Vor der Firmenzentrale finden Sie dann natürlich keinen Parkplatz. Um 9.53 Uhr betreten Sie aber tatsächlich den Haupteingang und melden sich an.

Zeit, um nochmal über den bevorstehenden Termin nachzudenken, hatten Sie sowieso nicht. Das einzige, was Sie jetzt überhaupt noch denken können, ist: „Was soll mir heute schon noch passieren?“ Ihre innere Haltung von „Jetzt ist sowieso alles egal“ verleiht Ihnen allerdings nach außen eine lässige Ausgeglichenheit. Herr Dr. K. findet Sie sympathisch, Sie ihn auch. Er lobt Ihre fachliche Kompetenz und Ihre Souveränität. Zwischendurch kommen Sie auf den Begriff „Achtsamkeit“ zu sprechen, den Herr Dr. K. blöd findet. Sie können an einem Tag wie diesem darüber sowieso nur kurz trocken auflachen. Am Ende des Gespräches hilft Dr. K. Ihnen formvollendet in den Mantel und erwähnt die Farbe Ihrer Strümpfe nicht. Um 11.30 Uhr ist der Tag Ihr Freund.

So kommt das alte deutsche Wort „Schicksalsergebenheit“ mal wieder zu seinem Recht. Ein Wort, das man höchstens für private Aussichtslosigkeiten gelten lässt, und auch das nur im Notfall. In beruflichen Zusammenhängen verbietet sich das Wort natürlich. Eigentlich. Oder waren die Vertreter der stoischen Philosophie doch gar nicht so realitätsfern? Sollen wir es doch mal wieder mal mit dem Römer Lucius Annaeus Seneca (1-65 n. Chr.) und den anderen aus der Athener Säulenhalle („Stoá“) versuchen?

Warum eigentlich nicht? Seneca, der berühmteste Stoiker, rät uns nämlich gar nicht zu Apathie und Resignation, sondern schlicht zu vernünftiger Gelassenheit. In einem Brief schreibt er:

„Das Schicksal hat, anders als wir meinen, keine langen Arme. Es packt nur den, der sich an es klammert. Lasst uns daher so weit von ihm zurückspringen wie wir können; das wird uns nur gelingen, wenn wir uns selbst und die Natur richtig kennen. Wissen muss man, wohin es geht, woher man kommt, was für einen gut ist, was schlecht, was man erstrebt, was man vermeiden soll; Bescheid wissen muss man über jene Vernunft, die zwischen dem, was man wünschen soll, und dem worauf man verzichten muss, unterscheidet, die rasende Leidenschaft besänftigt und panische Ängste beruhigt.“

Oder, ein ganz kurzer Seneca, für einen Tag wie diesen: „Nichts ist so bitter, dass ein gefasstes Herz keinen Trost fände.“