Endlich waren meine Freundin B. und ich mal wieder zusammen in einer Buchhandlung. Erst stöberten wir ein bisschen herum, dann kamen wir mit dem Buchhändler Herrn S. ins Gespräch. Er empfahl uns vier, fünf Bücher, erzählte uns einiges über deren Inhalt und begründete auch, warum er sie wirklich gut findet. Leider waren wir intellektuell offenbar gerade nicht in ganz so guter Form. Ich sagte irgendwann tatsächlich, das eine Buch sei mir im Moment zu dick – eines der blödsinnigsten Argumente, ein Buch nicht zu kaufen, und ein fadenscheiniger Vorwand. Dann wollte ich ein anderes unbedingt mitnehmen, denn ich hatte es in den vergangenen Wochen schon mindestens zweimal in der Hand gehabt. Aber B. fragte: „Hast du das nicht schon? Ich glaube, ich hab‘ das vorhin bei dir gesehen.“ Das stimmte nicht, sie hatte sich geirrt, aber ich war mir plötzlich auch nicht mehr sicher und legte es wieder weg. Herr S., der direkt neben uns stand, verhielt sich unauffällig, obwohl er mich inzwischen nicht nur für beschränkt sondern auch für verwirrt halten musste.

Dann kam B.’s Part. Bislang hatte sie sich alles neutral angehört, aber plötzlich kam Leben in sie. Es fielen nämlich zwei Stichworte, mit denen man B. nahezu jedes Buch verkaufen kann. Sie heißen „romantische Liebesgeschichte“ und „ein bisschen wie Brokeback Mountain“. „Brokeback Mountain“, wir erinnern uns, war dieser Film vor gut zehn Jahren, in dem es um zwei verliebte Cowboys ging. B. heulte damals voller Rührung in ihrem Kinosessel still vor sich hin. Noch heute ist „Brokeback Mountain“ für sie ein Meilenstein der Filmgeschichte. Also trug sie dieses Buch nun glücklich zur Kasse. Inzwischen hatte auch ich etwas gefunden, wir kauften die beiden Bücher und gingen.

Als wir draußen waren, sagte B.: „Der war ja nett. (Sie meinte Herrn S.) Der hat bestimmt gemerkt, dass wir vom Fach sind.“ Ich guckte sie an und fing sofort an zu lachen: „Woran soll er das denn gemerkt haben? Wir haben uns doch wie zwei komplette Volltrottel benommen. Du hast dir eine schwule Liebesschmonzette andrehen lassen, und ich habe ihm gesagt, dass mir das Buch zu dick ist!“ Aber B., die Buchwissenschaftlerin, blieb dabei, dass wir interessiert und auf gewisse Weise auch kompetent gewirkt hätten. Ein Buchkauf, zwei Welten! Eine Wirklichkeit, zwei total unterschiedliche Wahrnehmungen. Oder doch zwei Wirklichkeiten? weiterlesen »

Vor ein paar Tagen habe ich angefangen, einen neuen Vortrag zum Thema interne Kommunikation zu schreiben. „Dialog“, „Transparenz“ und so weiter sind da die Stichworte, aber natürlich auch „Fauxpas“ und „Missverständnisse“. Zumindest wollte ich an dem Text arbeiten, aber es kam zu Irritationen aus dem Nebenzimmer. J. (10) und M. (6) waren ganz offenbar mal wieder unterschiedlicher Meinung. Die beiden wurden immer lauter, und ich fragte mich, ob ich bei meiner Devise „Nicht eingreifen, ehe einer heult“ bleiben sollte. Das hatte sich aber schnell erledigt, denn Sekunden später standen sie neben mir, und sie heulten beide.

J. hatte seine vier Jahre jüngere Schwester mal wieder kurzerhand mit einem Judogriff aus dem Weg geschafft. „Du S.“ habe sie aber schließlich vorher zu ihm gesagt, empörte er sich. (Wir befinden uns hier im Schimpfwörterkontext der agrarischen Nutztierhaltung.) Nein, habe sie nicht, wirklich nicht, kam von M. zurück. Und das stimmte. J. überlegte, und dann kam die Antwort: „Ich habe es so wahrgenommen“. weiterlesen »

Es ist mir schon wieder passiert. Ich bin angemeckert worden. Ohne, dass ich etwas Böses getan hätte. Also so ähnlich wie im ersten Satz von Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ (1914/15): „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“  Jetzt bin ich zwar glücklicherweise nicht gleich verhaftet worden, aber wenn meine Kontrahentin das gekonnt hätte, wäre sie zweifelsohne auch davor nicht zurückgeschreckt …

Das Wochenende begann harmlos. Wir wollten uns mit Freunden auf dem Markt treffen, und ich parkte am Rande einer großen Garageneinfahrt. Perfekter Parkplatz. Nur das Heck des Wagens ragte rund 30 Zentimeter dorthin, wo der Kantstein schon abgesenkt war. Ich blockierte das Tor aber nicht und wollte los. In dem Moment ging im Hochparterre eine Balkontür auf. Eine sichtlich übellaunige Dame stürmte heraus und fuhr mich an: „Sie wollen doch da wohl nicht stehen bleiben!“ Ich fragte, ehrlich erstaunt, zurück: „Warum denn nicht?“ Und statt einer Antwort schmiss sie die Tür von innen wieder zu. Damit konnte ich nun wirklich nichts anfangen. Keine Antwort ist eben nicht auch eine Antwort. Keine Antwort ist ganz einfach keine Antwort. weiterlesen »

Beim Autofahren schimpfe ich angeblich ziemlich viel. Über andere, die auch Auto fahren. Das sagen zumindest diejenigen, die öfter meine Beifahrer sind, meine Kinder zum Beispiel. Ich muss jetzt immer einen Euro in unsere Familienkasse zahlen, wenn ich bestimmte Wörter am Steuer sage. (Dabei handelt es sich natürlich immer um familienfreundliche Schimpfwörter. Leicht ins Vulgäre rutsche ich nur ab, wenn ich wirklich ganz alleine bin.) A., der neulich zum ersten Mal mit mir fuhr, fand es wahnsinnig komisch, dass ich mich überhaupt an andere Autofahrer wende, obwohl die doch kein einziges Wort davon mitbekommen. Dabei hatte ich in dem Fall nur etwas schärfer einer Knalltüte, die ungebremst von links an mir vorbeischoss, hinterhergerufen: „Danke! Das wäre meine Vorfahrt gewesen.“ „Na ja“, meinte A., die Kinder hätten ihm das auch schon gesagt, dass ich beim Autofahren „wohl nicht immer ganz in meiner Mitte“ sei …

Das haben die so garantiert nicht gesagt. Es wird vermutlich wesentlich deutlicher gewesen sein, aber es ist ein schöner Euphemismus für das, was mit mir beim Autofahren passiert. Selbst kleinste Verfehlungen kommentiere ich. Jeder, der meinen Weg auch nur in kleinster Weise behindert, bekommt meine Bemerkungen ab. Schließlich sind die, die vor mir fahren, und mich auf der Straße sabotieren, ja offensichtlich in ihrer Mitte. Jedenfalls die, die mir die Vorfahrt nehmen, … und die, die mit 45 in der Stadt vor mir herschleichen, … und die, die einfach anhalten ohne zu blinken. Oder diejenigen, die mit 120 auf der A7 auf der linken Spur fahren. weiterlesen »

„Bücher“, sagte der Schriftsteller Jean Paul (1763-1825), „sind nur dickere Briefe an Freunde“. Damit meinte er natürlich Briefe, die der Autor seinen Lesern schreibt. Für mich hat dieser Satz allerdings eine andere Bedeutung bekommen, seit meine Freunde anfingen, mir merkwürdige Bücher zu schenken. Seitdem frage ich mich nämlich, ob das Buch ein Brief von ihnen an mich sein soll. Es begann damit, dass ich von meiner Freundin V. „Kress“ (2015) von Aljoscha Brell bekam …

Der Protagonist Kress studiert in Berlin Literaturwissenschaft und Philosophie, interessiert sich für Goethe und Kleist und besucht Seminare zur Ethik Immanuel Kants. „Deswegen hat sie mir das geschenkt“, dachte ich. Dann allerdings stellt sich schon ziemlich bald heraus, dass dieser Kress nicht ganz dicht ist. Den Werbemüll aus seinem Briefkasten stopft er in die der Nachbarn. In seiner dunklen, runtergekommenen Wohnung steigt er über Massen von leeren Flaschen. Jeden Morgen unterhält er sich am Küchenfenster mit einer Hinterhoftaube, die er „Gieshübler“ nennt und siezt. Und bald schon stalkt er eine Kommilitonin, dringt heimlich in ihre Wohnung ein und hat im Grunde nichts mehr unter Kontrolle. Gar nichts. Sollte das etwa auch etwas mit mir zu tun haben? weiterlesen »